Hamed Abdel-Samad schildert seine Erfahrungen mit der Muslimbruderschaft
in seiner Autobiographie folgendermaßen:
„In der Mensa setzte sich ein Kommilitone mir gegenüber. „Ich liebe dich im
Namen Allahs“, sagte er aus heiterem Himmel zu mir.“ „Wie bitte?“ „Ich liebe
dich im Namen Allahs! Der Prophet lehrt uns, den Menschen, die wir lieben,
unsere Liebe zu offenbaren.“ Ich hatte ihn nur ein paarmal zuvor gegrüßt und
sonst kein Wort mit ihm gewechselt. Kein Mensch hatte je zuvor zu mir gesagt:
„Ich liebe dich.“ Er war mir sympathisch und schien aufrichtig zu sein.
Er gehörte zu den Muslimbrüdern, die an der Universität und im Wohnheim
sehr aktiv waren. Auch ihre Vereinigung war geheim und vom Staat verboten.
Wie ich später begriff, war ich auch für sie ein idealtypischer Kandidat: ein
Neuankömmling aus der Provinz, der in der Anonymität der Großstadt nach
Anschluss und Gemeinschaft suchte. Neben dem gemeinsamen Gebet und den
stundenlangen Diskussionen über die Lage in Palästina bot die Muslimbrüder-
schaft auch ein weitverzweigtes soziales Netz, das einerseits langsam das
Gefühl der Isolation und Angst in mir verminderte, mich andererseits aber auch
schnell vereinnahmte. Da, wo Staat und Familie fehlten, standen die Muslim-
brüder bereit und boten soziale wie karitative Dienste und Veranstaltungen an.
Sie waren bei der Rekrutierung und Mobilisierung von Studenten wesentlich
erfolgreicher als die Kommunisten.
Parolen wie „Wir sind alle Brüder und haben das gleiche Schicksal“, „Der Islam
braucht Männer, die niemanden außer Allah fürchten“ und „Wir können etwas
tun, wir müssen etwas tun!“ steigerten nicht nur meinen Enthusiasmus,
sondern gaben mir das Gefühl, erwachsen geworden zu sein.
In der Organisation engagierten sich viele junge Studenten, die sonst in
Ägypten keine Chance auf politische Partizipation hatten. Im Gegensatz zu
anderen islamischen Bewegungen, wie dem „Islamischen Dschihad“ oder
„Jama’a Islamiya“, war der Diskurs in der Muslimbrüderschaft intellektuell
fundiert und sprach die Studenten an. Wir empfanden diese Art der Auseinan-
dersetzung trotz ihrer religiösen Färbung als modern und emanzipatorisch.
Neue hermeneutische Definitionen des Islam waren möglich.
Die Muslimbrüderschaft setzte ganz auf ideologische Mobilisierung und nicht
auf den unmittelbaren bewaffneten Kampf für die Veränderung der bestehen-
den politischen und sozialen Verhältnisse. „Errichtet den Staat Gottes in euren
Herzen, so wird er bald auf eurem Territorium entstehen“, wurde Scheich Al-
Hudaibi, einer der Gründer der Bewegung, imme wieder auf Veranstaltungen
zitiert. Die Abnabelung von der Familie folgte in meinem Fall eine Abnabelung
vom klassischen Mainstream-Islam, den ich von meinem Vater kannte.
Es war beruhigend, dass ich nicht allein war. Die Auseinandersetzung mit der
Moderne belastete einen Großteil meiner Generation. Kulturelle und religiöse
Identität schien uns häufig im Widerspruch zu persönlichem, wirtschaftlichem
und politischem Erfolg zu stehen.
Meine Generation steckte in einem Dilemma: Einerseits war sie von den Eltern
traditionell und konservativ erzogen worden, andererseits sah sie sich den
Verführungen der Zivilisation ausgesetzt. Kulturstau und kulturelle Konfusion
begleiteten uns auf der Suche nach Orientierung und Anerkennung. Wir
standen in einem gespaltenen Verhältnis zum Westen, seiner Kultur und seinen
Werten. Einerseits waren wir begeistert von der technischen Entwicklung und
den westlichen Produkten und nutzten diese auch, soweit wir uns das leisten
konnten; andererseits fühlten wir uns bedroht, überholt und gedemütigt von
der westlichen Welt. Je häufiger wir in unserer Heimat mit ihr in Berührung
kamen, desto stärker nahmen unsere Faszination als auch unsere Angst zu,
von dieser Form der Zivilisation überflutet zu werden. Der Westen eignet sich
ideal für die Rolle des Schuldigen, der dafür verantwortlich gemacht wird, dass
die islamische Welt den Anschluss an die Moderne verpasst hat. Wir sahen den
Westen als eine Macht, die uns jahrhundertelang als Toilette benutzt hatte und
am Ende in einem miserablen Zustand zurückließ, ohne wenigstens einmal die
Spülung betätigt zu haben.
Doch für viele von uns spielte der Westen auch die Rolle eines Hoffnungs-
trägers, von dem wir uns die Instrumente der Moderne wie Wissenschaft und
Technik würden entleihen können. Europa führte uns die Möglichkeiten der
politischen Transformation und Demokratie vor Augen. Der europäische
Einigungsprozess war für uns ein Beispiel für die erhoffte islamische Einigung
der „Umma“. Doch als Muslimbrüder waren wir uns einig: Wir akzeptieren die
Instrumente der Moderne, lehnen jedoch deren Geist ab – sprich den seelen-
losen Kapitalismus, den Hedonismus, die grenzenlose Empanzipation , die
Infragestellung und Entmystifizierung alles Heiligen. Die Muslimbrüder waren
für mich somit gottgläubige Marxisten. (…)
Zugleich waren die Muslimbruderschaft für mich eine Möglichkeit zur
Emanzipation von meinem Vater und ein Weg der Modernisierungsfalle zu
entgehen. Das Motto „al-Islam huwal-hall“ („Der Islam ist die Lösung“) gab mir
eine klare Orientierung. Aus dieser Rhetorik heraus entwickelte sich eine
einfache Erklärung dafür, warum die islamische Welt nun die führende Rolle in
der Welt verloren hatte.
Für die Muslimbrüder liegt die Antwort auf der Hand, sie führen die Rückent-
wicklung der islamischen Welt auf zwei Faktoren zurück: einerseits auf die
Entfernung der Muslime von den Fundamenten ihres Glaubens und die damit
verbundene Legitimations- und Identitätsverluste; die Verpflanzung der poli-
tischen und juristischen Systeme des Westens in die islamischen Länder (…)
führte zu Konfusion und Desorientierung. Andererseits auf die feindliche
Haltung des Westens gegenüber dem Islam und den islamischen Ländern, die
Einmischung der westlichen Großmächte in deren interne Angelegenheiten
und die ausländische Kontrolle ihrer Bodenschätze. (…)
In den „geheimen“ Sommer- und Winterlagern, die zu den vielfältigen
Angeboten zählten, lernten wir von den Wortführern der Muslimbrüder, dass
die Muslime drei Feinde haben: den „internen“ Feind, also die Machthaber in
der islamischen Welt, die korrupte Marionetten des Westens seien; den
„nahen“ Feind Israel und die „fernen“ Feinde, also Amerika und der Westen.
Die Priorität im Dschihad gilt demnach dem eigenen Land. Auffällig war, dass
weder die Gastredner, die uns in den Lagern über den Islam unterrichteten,
noch die führenden Kader der Muslimbrüder ausgebildete Theologen waren.
Meistens handelte es sich um autodiktatische Laien, die ihren Lebensunterhalt
als Ärzte, Ingenieure oder Rechtsanwälte verdienten. Bruder Khidr war unser
Vorbild. Er war sympathisch, humorvoll und an der Universität erfolgreich. Er
hatte eine ruhige, selbstbewusste Art zu argumentieren. (…)
Während der Lager beteten wir gemeinsam unter freien Himmel in der Wüste,
aßen wenig und teilten das Wenige brüderlich. Wir versuchten die Urzeit des
Islam wiederzerzustellen und lebten für kurze Zeit wie die erste Gemeinde von
Medina. Mich ärgerte nur, dass sie sich gegenseitig ständig umarmten und
zueinander sagten: „Ich liebe dich im Namen Allahs“. Das wirkte auf mich
ziemlich schwul, und ich versuchte mich dem zu entziehen, so gut es ging.
Eine Umarmung setzt eine gewisse Intimität voraus, die ich mit niemandem
erreichen konnte. (…) Aber die Brüder waren wahrhaft religiös, aufrichtig und
von einer gefestigten Moral. Das Gefühl, in einer Gruppe von Männern zu
leben, vor denen man keine Angst haben muss, war für mich sehr wichtig.
Beim Gebet haben fast alle außer mir immer aus Ehrfurcht vor Gott geweint. So
wie im Dorf war das Praktizieren de Religion für mich eher eine soziale und
keine emotionale Angelegenheit.“