Ukraine-Krise: "Wieder Krieg in Europa?
Nicht in unserem Namen!"
Roman Herzog, Antje Vollmer, Wim Wenders, Gerhard Schröder und viele
weitere fordern in einem Appell zum Dialog mit Russland auf.
Mehr als 60 Persönlichkeiten in Deutschland aus Politik, Wirtschaft, Kultur und
Medien warnen in einem Aufruf eindringlich vor einem Krieg mit Russland und
fordern eine neue Entspannungspolitik für Europa. Ihren Appell richten sie an
die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und die Medien.
Hier ein Auszug aus dem Aufruf nach Frieden und Dialog:
Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland
treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung
und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. Alle Europäer, Russland
eingeschlossen, tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit.
Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.
Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht
überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen.
Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben
schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei
Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem
Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland
bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige
Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau nicht zu erklären.
Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer
Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine
neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher
Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. Die
deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen
Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft.
Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der
Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.
Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch,
unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814
gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die
versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das
größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland
zu unterwerfen.
Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, als vom
Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und
aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer
nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert,
verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen
müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.
Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien
Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und
Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend
zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen
verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden,
Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker
kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die
Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden
Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.
Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident
Richard von Weizsäcker: "Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und
Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. ... Nun können sie ihre
Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine
gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas
beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine
gesamteuropäische Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen,
aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa
zu einigen oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische
Gegensätze zurückzufallen."
Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg.
Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später,
aktueller denn je.
Quelle und gesamter Artikel siehe: http://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-
dialog