Volksentscheide mit Informationsausgewogenheit
von Hans Peter Aubauer
Einleitung:
Die indirekte Parteiendemokratie gerät auch in Österreich in den destruktiven
Einfluss der Medien, in die Abhängigkeit von Lobbys und auch deswegen
immer mehr außer Kontrolle, vor allem weil das kontrollierende Korrektiv des
Souveräns, des Volkes, zunehmend ausgeschaltet wird.
 
Die Volksvertreter vertreten nicht mehr die Interessen des Volkes, kennen sie
gar nicht, interessieren sich nicht für sie, finden sie eher störend und haben
die Einflussmöglichkeit des Volkes  auf die Politik insbesondere durch den
Souveränitätsabbau zugunsten der Europäischen Union undemokratisch
zurück gedrängt.
Undemokratisch, weil es grundsätzlich keine demokratische Möglichkeit geben
kann, die Demokratie einzuschränken oder gar abzuschaffen! Ganz entsprech-
end der indirekt demokratischen Möglichkeit die Ausübung der Souveränität
durch Regierende in wiederkehrenden Wahlen zu überprüfen, müsste zumin-
dest auch die EU-Mitgliedschaft Österreichs regelmäßig evaluiert werden. Das
Volk müsste nach einer ausgewogenen Diskussion gefragt werden, ob es
mehrheitlich mit der bisherigen Mitgliedschaft so einverstanden ist, dass sie
fortgesetzt werden soll.
Zunehmend wird dagegen bequem indirekt demokratisch über die Köpfe der
Menschen und gegen ihre mehrheitlichen Interessen entschieden, wodurch die
Menschen je nach Temperament in die Resignation, in das Aufbegehren oder
bestenfalls in das Desinteresse getrieben werden – ganz im Interesse der
Machthaber.
Weil die Orientierung am Volkswillen durch die stabilisierende Rückkoppelung
der Bevölkerung zwischen den Wahlgängen fehlt, ist das Machtviereck aus
Parteien, Medien, Lobbys und der Europäischen Union instabil. Es droht in
unbeherrschbare Konflikte, in die Unregierbarkeit und damit in die Versuchung
abzugleiten die letzten demokratischen Elemente zu beseitigen und sie durch
polizeistaatliche zu ersetzen. So entstehen Diktaturen.
Formal existiert in Österreich das Volksbegehren. Von den Bürgern mühevoll
erarbeitete Volksbegehrensergebnisse bleiben aber auch dann ohne Wirkung,
wenn sie beachtlich sind.
Formal gibt es auch eine Volksabstimmung. Das österreichische Volk wurde
aber bei der wesentlichsten Abstimmung über seinen EU-Beitritt im Jahr 1994
durch eine Propagandakampagne irregeführt. Zu weiteren drastischen Ein-
schränkungen der österreichischen Souveränität, etwa durch den Lissabon
Vertrag wurde die Bevölkerung gar nicht mehr gefragt.
Formal gibt es das Bürgerbegehren der EU. Es demonstriert aber nur die
Überheblichkeit gegenüber den Bevölkerungen. Faktisch bietet die Politik der
Bevölkerung keinerlei direkt demokratische Kontrollmöglichkeiten.
Die auf die Politik übermächtig hereinbrechenden Herausforderungen - eine
sozial verträgliche Reduktion der Belastung der Natur auf ihre Belastungs-
grenze - der Ausstieg aus globalen Ressourcenverteilungskämpfen - die
nationale Bewältigung des weltweiten Bevölkerungs-, Konsum- und Kapital-
zuwachses - die Rettung des eigenen Entscheidungsspielraumes bei gleich-
zeitig wachsendem Globalisierungsdruck - diese Herausforderungen sind
jedenfalls nur mit einer „direkt demokratisch kontrollierten indirekten Demo-
kratie“ zu bewältigen, also einer indirekten Demokratie zusammen mit  Volks-
entscheiden, vor denen ausreichend und ausgewogen diskutiert sowie infor-
miert wird:
Volksentscheide weitgehend nach Schweizer Vorbild und die vorbereitenden
Diskussionen etwa nach dem Vorbild der „Regierungskampagne Kernenergie“
vor der Volksabstimmung im Jahr 1978 und durchaus nach dem Vorbild der
gerade stattfindenden öffentlichen Diskussionen um das Projekt Stuttgart 21.
Nur erwähnen möchte ich hier den Vorschlag einer „liquid democracy“ , die die
neuen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten zu einer Mischform
von indirekter und direkter Demokratie nutzt.
Zu den Volksentscheiden:
Erstens - durchaus entsprechend der Schweizer Bundesverfassung sollte
geregelt werden, welche  Art von Gesetzen, Staatsverträgen und anderen
Sachfragen zwingend einer Volksabstimmung (einem obligatorischen
Referendum) unterstehen (z. B. Verfassungsänderungen, Einschränkungen der
Souveränität oder der Neutralität, ausländische Kampfeinsätze).
Zweitens - die übrigen Gesetze sollen einem fakultativen Referendum
unterliegen, d.h.innerhalb von drei Monaten nach der Verabschiedung eines
Gesetzes oder einer Gesetzesänderung durch das Parlament können 50.000
Stimmberechtigte mit ihrer Unterschrift eine Volksabstimmung verlangen, in
der sie der Verabschiedung oder Änderung zustimmen oder sie  verwerfen.
Drittens - in Anlehnung an das Instrument der Schweizer Volkinitiative sollten
Volksbegehren ohne inhaltliche Einschränkung (auch über die Änderung der
Verfassung oder von Staatsverträgen), die von mindestens 100.000 Stimm-
berechtigten unterschrieben werden, innerhalb  einer geeigneten Frist nach
Einreichung der Unterschriften einer Volksabstimmung unterzogen
werden, deren Mehrheits-Ergebnis bindend ist. 
Zur Informationsausgewogenheit vor Volksentscheiden: 
Es geht schlicht darum als Norm einzuführen, wozu die Politik bisher als direkt
demokratischer Ausweg aus indirekt demokratischen Sackgassen gezwungen
wurde:
Ausführliche, gegenüber den Kontrahenten chancengleiche, tief in Sachdetails
gehende, ergebnisoffene Diskussionen (u. a. mit der „Nulloption“ bei
Bauprojekten) in aller Öffentlichkeit unter Ausnützung der elektronischen
Möglichkeiten wie des Internets.
Die Medien werden dabei gesetzlich verpflichtet, den Befürwortern und
Gegnern (unabhängig von ihrer Finanzausstattung) gleiche Möglichkeiten zu
geben, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Ganz in Übereinstimmung mit der
dem Gemeinwohl verpflichteten Pressefreiheit können sie entweder nichts
berichten oder auch völlig einseitige Berichte bringen, solange sie der Gegen-
meinung ebenso viel Argumentationsraum einräumen.
Vor der Kernkraft-Volksabstimmung im Jahr 1978 gab es genau diese aus-
gewogene Berichterstattung. Die Politik sah sich zum öffentlichen Gespräch
über die Inbetriebnahme eines schlüsselfertigen Kernkraftwerkes gezwungen,
genau wie gerade jetzt im Stuttgarter Rathaus über die Fortsetzung des vier
Milliarden Euro Bahnprojektes Stuttgart 21.
Gezwungen, weil das Zwentendorfer Kernkraftwerk und der Stuttgarter Bahn-
hofsumbau indirekt demokratisch ohne direkte Zustimmung der Bevölkerung
beschlossen wurden und der so provozierte Bevölkerungswiderstand das
Gespräch zwischen den Kontrahenten zusammen mit ihren Fachleuten
ertrotzte.
Das sieben Milliarden Euro teure Schweizer Bahnprojekt des St. Gotthard
Tunnels wurde dagegen schon vor seiner Inangriffnahme geeignet diskutiert
und in zwei Volksabstimmungen 1992 und 1994 direkt demokratisch von der
Bevölkerung beschlossen. Konfliktlos und zum offensichtlichen Allgemeinwohl
der Schweiz, aber auch Österreichs ist es inzwischen in Fertigstellung.
Eine chancengleiche Diskussion vor Volksentscheiden entkräftet die Kritik an
der direkten Demokratie: Das wesentliche Argument gegen die direkte Demo-
kratie ist die angeblich mangelnde Qualifikation der Bevölkerung. Sie könne
keine komplizierten Entscheidungen treffen.
Schon die Schweizer Erfahrungen zeigen aber das genaue Gegenteil. Erst in
einer gründlichen, kontroversen und öffentlichen Diskussion, in der alle
Meinungen, Interessen, aber auch der ganze verfügbare akademische Sach-
verstand vertreten ist, entsteht das Wissen über die Lösung komplexer Frage-
stellungen, die der gegenwärtigen, aber auch zukünftigen Bevölkerungsmehr-
heit dient.
Sachverständige der einen Seite werden öffentlich der Kritik von Fachkollegen
der anderen Seite ausgesetzt, die die Bevölkerung in das Gespräch einbringt.
Professoren oder Ingenieure werden zu einer verständlichen und überzeugen-
den Sprache gezwungen. Die Dominanz der Entscheidungen immer derselben
wenigen protegierten Professoren im stillen Kämmerlein über die Meinungs-
bildung der Abgeordneten verschwindet – Abgeordnete, die nachweisbar den
Inhalt dessen kaum kennen, über das sie entscheiden. Oft habe ich öffentliche
Dispute erlebt, in denen Hausfrauen ihre professoralen Gesprächspartner gar
nicht gut aussehen ließen.
Unsachlichkeiten der öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen würden
die Gesellschaft spalten. Dagegen weichen Polemik und Untergriffe in öffent-
lichen Auseinandersetzungen zwangsläufig Sachargumenten, weil sie entlarvt
werden und ihre Urheber schwächen. Ob es den Befürwortern einer Entschei-
dung in einer öffentlichen Argumentation gelingt, die Gegner zu überzeugen
oder umgekehrt - in beiden Fällen wird das Ergebnis von der Bevölkerungs-
mehrheit eher akzeptiert, als wenn Bevölkerungsteile, wie in der indirekten
Demokratie, von der Mitentscheidung ausgeschlossen werden.
Entsprechend einer weiteren Kritik könne die direkte Demokratie von Popu-
listen und Volksverhetzern missbraucht werden. Schon Hitler habe seine
verbrecherischen Beschlüsse wie den Einmarsch in Österreich (1938) durch
eine Volksabstimmung legitimieren lassen.
Das ist richtig, das österreichische Volk wurde bei seiner Abstimmung aber
durch eine Propagandakampagne irregeführt. Bekanntlich erstrebte der
damalige Bundeskanzler Kurt A. J. J. Schuschnigg davor eine demokratischere
Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs, welche selbst von den
damals illegalen Sozialdemokraten und Kommunisten unterstützt worden wäre.
Die Nationalsozialisten vereitelten sie aber.
Eine ausgewogene Information und Diskussion vor Volksentscheiden
vermeiden das Abgleiten in Irrationalitäten  und in die Abhängigkeit von
Partikulärinteressen. Ausführliche öffentliche chancengleiche Gegenüber-
stellungen dienen dagegen gerade dazu einseitigen Hetzern den Boden zu
entziehen.
Unruhestifter und Lobbyisten haben auf die extrem kleine Anzahl von
Menschen, die üblicherweise in der repräsentativen Demokratie entscheiden,
einen viel größeren Einfluss, als auf eine breite öffentliche Kontroverse.  So ist
etwa auch keine direkt demokratische Einführung der Todesstrafe zu befürch-
ten. Die Schweiz lebt seit über 150 Jahren mit direkter Demokratie und noch nie
wurde über die Todesstrafe abgestimmt. Eine „Eidgenössische Volksinitiative
„zur Rettung unserer Jugend: Wiedereinführung der Todesstrafe für Personen
die mit Drogen handeln““ scheiterte 1985 bereits im Sammel-stadium.
Kritisiert wurde die Schweizer Volksabstimmung „Gegen den Bau von Mina-
retten“ vom 29.November 2009. Da sie kein Menschenrecht verletzt, ist sie ein
gelungener Versuch sich gegen die Aushöhlung des Nationalstaates durch die
außernationale Globalisierung zu wehren.
Natürlich können auch direkt demokratische Entscheidungen falsch sein, wie
für die Kernenergie in der Schweiz. Weil mehr Sachverstand und mehr von der
Entscheidung betroffene Menschen dabei mitwirken, liegt die Fehlerrate direkt
demokratischer  Entscheidungen aber weit unter der der indirekt demokrati-
schen Entscheidungen. 
Volksabstimmungen kosten angeblich übermäßig Zeit und Geld. Dagegen
wurde nachgewiesen, dass die direkte Demokratie (mit etwa fünf jährlichen
Volksentscheiden) im Vergleich zur rein repräsentativen Demokratie zu
politisch und ökonomisch effizienteren Lösungen führt.
Die Volksabstimmungen über Budget- und Steuerfragen in der Schweiz
bringen z. B. die vorbildliche Ausgabendisziplin. Das Volk passt auf, dass sein
mühevoll erarbeitetes Steuergeld nicht verschwendet wird. Und der Vergleich
der Bahnprojekte Stuttgart 21 und St. Gotthard zeigt, wie zeit- und kosten-
sparend direkte Demokratie sein kann.
Es existiert einfach keine vernünftige Alternative zur Demokratisierung der
Gesellschaft eines Kleinstaates mittels der dargestellten drei informationsaus-
gewogenen Volksentscheide, denen
-  erstens ein Teil der Gesetzes- und Sachentscheidungen verpflichtend
unterworfen wird (das obligatorische Referendum),
-  Volksentscheide, die zweitens alle politischen Gesetzeswerdungen mit der
Unterstützung von 50.000 Stimmen kontrollieren können (das fakultative
Referendum) und drittens
- bindende Volksabstimmungen über alle Sachfragen, die 100.000 Stimmen
initiieren können.
Hans Peter Aubauer
Quelle: http://www.wien-konkret.at/politik/direkte-demokratie