„Nach einer langen Zeit der Trennung wollte ich meine Familie im Dorf
besuchen. Meine Beziehung zu meinem Vater war immer noch kalt (…), aber
wir konnten trotzdem miteinander reden, und das war für uns beide wichtig.
Ich fragte ihn nach seiner Meinung über die Muslimbrüder und ihre Ideologie.
Er sagte, der Islam eigne sich nicht für politischen Aktionismus, und dass die
Muslimbrüder den Begriff Dschihad zu eng interpretierten, denn Dschihad
bedeute in erster Linie persönliche Anstrengung. Es sei viel zu einfach, sich
um den nahen oder fernen Feind zu kümmern und dabei den internen Feind zu
vergessen. Der wahre Dschihad, so mein Vater, sei die Anstrengung gegen die
eigene Faulheit und Passivität, das Korrigieren der eigenen Fehler und
Versäumnisse. Der Islam sei eine soziale Reformbewegung, keine politische
Partei; die Religion solle sich nicht für den Krieg rüsten, sondern soziale
Wunden heilen.
„Wenn du Dschihad willst“, sagte mein Vater, „dann studiere fleißig, heirate
und zeuge Kinder, sei lieb zu deiner Familie und mach aus dir und deinen
Kindern gute Bürger; das ist der wahre Dschihad. Es ist viel einfacher, sich all
dem zu entziehen und den Märtyrertod zu wählen. Denn wen macht dein Tod
glücklich?“ (S.200)
Obwohl Hamed Abdel-Samad auch nach dieser Antwort weiterhin innerlich
zerrissen und im Zweifel war, hielt ihn die weise Antwort seines Vaters doch
letztendlich davon ab, sich weiter zu radikalisieren. Er schreibt in seiner
Autobiographie: „Die Anerkennung und die Solidarität der Muslimbrüder mir
gegenüber sowie das Gefühl der Emanzipation ließen mich in ihren Reihen
bleiben, doch mein Respekt vor meinem Vater, trotz all seiner Schwächen und
Verfehlungen, hielt mich davon ab, mich in radikal politische Projekte zu
verwickeln. Ich veröffentlichte lediglich einige politische Artikel in der
Universitätszeitung und demonstrierte gegen die Kriege am Golf und auf dem
Balkan.“ (S.203)