F. William Engdahl, einer der wichtigsten und brillantesten investigativen
Autoren unserer Zeit, beschreibt seine persönlichen Eindrücke vom “neuen
Russland” unter Wladimir Putin -  und dieser persönliche Erfahrungsbericht
weicht erheblich von dem Bild ab, das in den westlichen Medien vom “bösen”
Russland gezeichnet wird:
F.W.Engdahl schreibt dazu (im Sept.2014) folgendes: “Mein erster Russland-
besuch liegt 20 Jahre zurück; im Mai 1994 war ich von einer Moskauer Denkfabrik
für Wirtschaftsfragen eingeladen worden, einen kritischen Vortrag über den IWF
zu halten. Damals machte Russland auf mich den Eindruck einer ehemaligen
Großmacht, die zutiefst erniedrigt worden war. Mafia-Gangster rasten in ihren
blitzenden, nagel-neuen Mercedes mit verdunkelten Scheiben und ohne Nummern-
schilder über die breiten Moskauer Boulevards. Gesetzlosigkeit herrschte alleror-
ten – vom US-gestützten Kreml unter Jelzin bis auf die Straßen. Überall in der
Stadt schwirrten Harvard-Boys herum, die im Auftrag ihrer Wall-Street-Sponso-
ren nach neuen Wegen suchten, Russland zu berauben.
Das Ausmaß des Traumas, das der völlige Zusammenbruch des Lebens in
Russland nach dem November 1989 auslöste, war erschütternd. Ich sah es in den
Augen ganz normaler Menschen auf den Straßen Moskaus, der Taxifahrer, der
Mütter, die ihre Einkäufe erledigten.
Heute, gut 20 Jahre später, ist Russland erneut mit einem westlichen Gegner,
dieses Mal der NATO, konfrontiert, die das Land nicht nur erniedrigen, sondern als
funktionierenden Staat zerstören will – einen Staat, der in der Lage ist, den west-
lichen Eliten hinter den Kriegen in der Ukraine, in Syrien, Libyen, dem Irak,
Afghanistan, Afrika und Südamerika einen dicken Strich durch die Rechnung zu
machen. Vielleicht ist es nützlich, wenn ich die Lage aus der Sicht eines ameri-
kanischen Beobachters beschreibe: Sie ist nicht so düster, wie man angesichts der
neuen »Verteufelung« Russlands durch amerikanische und europäische Medien
und Regierungen meinen sollte.”
Die Hoffnungsträger dieses “neuen, modernen Russlands” sind gemäß Engdahl vor
allem die Generation der “Neuen Russen”, die nach 1980 geboren wurden:
“Da mir kein besserer Begriff einfällt, nenne ich die Generation der nach 1980
Geborenen die »Zwischengeneration«. Sie wurden in den letzten Jahren des
kollabierenden alten Sowjetsystems geboren. Ronald Reagans »Krieg der Sterne«
und der US-geführte Krieg in Afghanistan hatten das Land erschöpft. Die Berliner
Mauer »fiel« im November 1989. Die Zwischengeneration war kaum älter als
zehn, als die Sowjetunion und die Illusion der Stabilität für sie und ihre Eltern
zusammenbrachen.
1999 nahmen die Dinge nach acht Jahren der Plünderung und Zerstörung durch
den IWF, westliche multinationale Konzerne und vor allem die »Freimarkt«-
Anhänger um Boris Jelzin eine neue Wende, als mit Wladimir Putin ein neues
junges Gesicht auftauchte.
Inzwischen erweist sich Putin als einer der wenigen kompetenten Staatsmänner in
einer Welt, in der es praktisch keinen Staatslenker von der Statur eines Charles de
Gaulle, Willy Brandt oder auch John F. Kennedy mehr gibt. Und die Zwischen-
generation ist in einer Atmosphäre aufgewachsen, wo in der russischen Gesell-
schaft viele neue Abenteuer ausprobiert werden konnten, wo die eigene Intelligenz
über Erfolg oder Scheitern entschied, wo schrittweise ein neues Russland entstand,
das hoffen konnte, wieder als große Nation handeln zu können und international
respektiert zu werden.
Was diese Generation, die heute in den Dreißigern ist, in meinen Augen aus-
zeichnet, ist ihr Charakter als hybride Generation. Die Ausbildung, die sie in den
Schulen und Universitäten erhielt, war immer noch weitgehend von der klassi-
schen russischen Wissenschaft geprägt. Sie war, wie mir in vielen Diskussionen
mit befreundeten russischen Wissenschaftlern im Laufe der Jahre immer wieder
bestätigt wurde, von einer Qualität, die man in der pragmatisch orientierten
westlichen Welt kaum kennt. Ein amerikanischer Physikprofessor vom MIT, der
Anfang der 1990er Jahre in Moskau lehrte, sagte mir: »Wenn ein russischer
Student der Naturwissenschaften an die Universität kommt, hat er bereits vier
Jahre Biologie, vier Jahre Chemie und Physik, Integral- und Differenzialrechnung,
Geometrie hinter sich … sie beginnen ihr Studium auf einem Niveau, das mit dem
eines amerikanischen Postdoktoranden vergleichbar ist.«
Sie wuchsen in einem Russland auf, wo es für junge Mädchen normal war, klassi-
sches Ballett oder Tanz zu lernen, wo alle Kinder Klavier oder ein Musikinstru-
ment spielen lernten, Sport trieben, malten, genauso wie in der Erziehung im
klassischen Griechenland oder im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Diese
Grundlagen, die bis in die 1950er Jahre hinein auch Unterrichtsstoff amerikani-
scher Schulen waren, wurden dort in den 1980ern fast völlig aufgegeben. Die
amerikanische Industrie wollte gefügige, »verdummte« Arbeiter, die keine Fragen
stellten.
Russische Biologie, russische Mathematik, Physik, Astrophysik, Geophysik – alle
Disziplinen gingen an ihren Gegenstand mit einer Qualität heran, die aus der
amerikanischen Wissenschaft längst verschwunden war. Ich weiß das, denn ich bin
in den 1950er Jahren in der Zeit der »Sputnik-Schocks« aufgewachsen, als man
uns als Oberschülern erklärte, wir müssten härter arbeiten, um »mit den Russen
gleichzuziehen«. Darin steckte ein Körnchen Wahrheit, aber der Unterschied lag
nicht darin, dass die amerikanischen Studenten nicht hart genug arbeiteten; wir
lernten und studierten durchaus ernsthaft und gaben uns viel Mühe. Die Qualität
der wissenschaftlichen Ausbildung war in Russland einfach besser.
Insbesondere der naturwissenschaftliche Unterricht in Russland oder der Sowjet-
union war stark vom deutschen Erziehungssystem des 19. Jahrhunderts, den so
genannten Humboldt-Reformen Wilhelm von Humboldts, seines Bruders Alexan-
der und anderer beeinflusst. Irgendwann, bereits in der Zarenzeit, erkannte der
russische Staat, dass das deutsche klassische System dem britischen Empirismus
und Reduktionismus überlegen war.
Ich habe Russen aus der 1980er Generation oft gefragt, warum sie nach Russland
zurückkehrten, nachdem sie in den USA gelebt hatten. Die Antwort lautete fast
immer: »Die Ausbildung in den USA war so langweilig, es gab keine Herausforde-
rung … die amerikanischen Studenten waren so oberflächlich, sie hatten keine
Ahnung über irgendetwas außerhalb des eigenen Landes … bei allen Problemen
habe ich beschlossen, zurückzukommen und beim Aufbau eines neuen Russlands
zu helfen …
Diese Generation versteht Entwicklung, Fortschritt und die Veränderung ihres
Lebens, die sich für die Zukunft Russlands als unschätzbar wichtig erweisen wird.
Durch Familie und frühe Kindheit sind sie, genauso wie Wladimir Putin, auch im
alten Russland verwurzelt, kennen also die Realität von alt und neu. Alle aus dieser
Generation können ehrlich betrachten, was wertvoll war und was tödlich – wie die
von der Stalin-Sowjetära geerbte lähmende Bürokratie. Sie sind in der einmaligen
Lage, beides zu integrieren und ein Russland zu formen, das einen Beitrag zum
Weltfrieden leisten kann, der weit über das hinausgeht, als sie sich vielleicht selbst
vorstellen. Davon bin ich zumindest aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen
fest überzeugt.
Quelle und gesamter Artikel:
http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/europa/f-william-engdahl/das-neue-russland-eine-
sehr-persoenliche-betrachtung.html