Thomas de Wesselow beschreibt die umstrittenen Untersuchungsergeb-
nisse in den 1980er-Jahren und die nachfolgenden Ereignisse
folgendermaßen:
“Die 1980er-Jahre standen ganz im Zeichen dieser archäologischen
Technik. Nach dem Tod von König Umberto II. 1983 erbte der Heilige
Stuhl das Grabtuch (womit dessen lange Verweildauer im Besitz des
Hauses Savoyen zu Ende ging), und bald darauf wurde den zunehmend
lauter werdenden Forderungen nach einer Radiokarbondatierung des Tuchs
eine Antwort zuteil. Nach mehrjährigem Gerangel und einiger Kompro-
missbereitschaft seitens der Wissenschaft war die Kirche schließlich bereit,
diese zuzulassen, doch durchgeführt wurde der Test erst 1988.
Das Ergebnis war für die Welt der Grabtuchforscher höchst
unliebsam. Den Laboratorien zufolge, die man mit de Datierung betraut
hatte, war das Tuch zwischen 1260 und 1390 hergestellt worden -  genau
wie Chevalier behauptet und die akademische Welt bis dahin angenommen
hatte. Jahrzehntelang hatten die Erben von Delage und Vignon ein immer
solider erscheinendes Indiziengebäude zugunsten der Echtheit der geheim-
nisvollen Reliquie errichtet, und mit einem einzigen tödlichen Streich
wurde dieses Gebäude nun zum Einsturz gebracht. Die Skeptiker, so
schien es, hatten auf der ganzen Linie recht gehabt.
Man hätte nun vielleicht erwarten können, dass die Grabtuchforschung
nach 1988 eine andere Richtung nehmen würde. Vor dem Hintergrund der
Radiokarbondatierung hätten sich die Kunsthistoriker auf das Grabtuch
stürzen und es als eine der faszinierendsten optischen Kreationen des
Mittelalters untersuchen können, ein echtes Meisterwerk von einem
Andachtsbild.
Seltsamerweise aber blieben sie nahezu einmütig stumm. Der Grund dafür
ist leicht einzusehen: Das Negativ der Tuchfotographie ist ein unum-
stößlicher Beleg dafür, dass das berühmte Bild nicht von einem
Künstler des Mittelalters geschaffen worden sein kann. Technisch,
ideen-geschichtlich und stilistisch ergibt das Grabtuch als mittelalterliches
Kunstwerk keinerlei Sinn. Die Kunstgeschichte  hatte, seitdem es erstmals
fotographiert worden war, mehr als ein Jahrhundert Zeit, das Tuch zu
untersuchen. Und in all der Zeit hat kein einziger Kunsthistoriker es
gewagt, es einem mittelalterlichen Künstler zuzuschreiben. (...)
Die Reaktion der katholischen Kirche auf die Radiokarbondatierung 
von 1988 ist beinahe genauso rätselhaft wie die Reliquie selbst. 
Zunächst einmal hat der Erzbischof von Turin, Kardinal Ballestrero,
obwohl er sich der ungeheuren Tragweite bewusst war und wusste, dass
die wissenschaftlichen Belege zu jener Zeit eher dafür sprachen, dass das
Tuch ein echtes Leichentuch ist, das Ergebnis ohne Zögern akzeptiert.
“Jetzt kennen wir die Wahrheit!”, hatte er frohgemut verkündet. “Das
Grabtuch ist nicht, wofür wir es gehalten haben, aber zum Allermindesten
bleibt es ein wunderbares Gnadenbild.”  Die Kirche ist nicht immer so
rasch bei der Hand, wenn es darum geht, wissenschaftliche Beweise zu
akzeptieren, die mit den Gefühlen der Gläubigen kollidieren (...)
Nicht minder erstaunlich ist die Weigerung, weitere Untersuchungen an
dem Grabtuch zu gestatten. Über zwanzig Jahre hindurch haben
Sindonologen nicht nur um eine zweite Radiokarbondatierung gebeten,
weil sie hofften, das Ergebnis von 1988 würde sich dadurch widerlegen
lassen, sondern auch um die Chance, das Tuch auf andere Weise zu unter-
suchen, die das Mysterium des Abbilds womöglich erhellen könnten. Man
hätte annehmen mögen, die Kirche würde alles, was angetan wäre, das
Renommee des Grabtuches wieder zu heben, begrüßen, aber die Bitten um
weitere Tests verhallten ungehört.
Unterdessen wurde das Grabtuch im Jahr 2002 in aller Stille einer
Restaurierung unterzogen, die seine Beschaffenheit dramatisch
verändert hat.  Unter anderem wurde alles verkohlte Material entfernt
und das gesamte Tuch unter Vakuumbedingungen gespannt. William
Meacham, ein erfahrener Archäologe und anerkannter Grabtuchexperte,
hat diesen Eingriff als einen Akt von “Vandalismus” bezeichnet, der “einen
wichtigen Teil des historischen Erbes der Reliquie ausradiert, wertvolle
wissenschaftliche Belege zerstört und das Tuch und seine Untersuchungen
unwiderruflich verändert hat.” Die Hüter des Grabtuches in Turin sind
nicht davon abzubringen, dass diese Konservierungsmaßnahmen verant-
wortbar und notwendig gewesen sei, doch viele engagierte Sindonologen
fürchten, dass ihr Studienobjekt als Gegenstand wissenschaftlicher 
Untersuchungen nunmehr wertlos geworden ist.”
 
 
Quelle: Thomas de Wesselow, “Das Turiner Grabtuch und das Geheimnis der
             Auferstehung”, 2013 C.Bertelsmann Verlag, S.39 ff.