Der Begriff Individualität (lat.: Ungeteiltheit) bezeichnet im weitesten Sinne die
Tatsache, dass ein Mensch oder Gegenstand einzeln ist und sich von anderen
Menschen beziehungsweise Gegenständen unterscheidet.
Verwendet wird der Ausdruck unter anderem in der Philosophie, Theologie,
Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Anthropologie und Humanbiologie. Die
Bedeutung des Individuums wird oft unter Gegensätzen wie Individuum und
soziale Gruppe, Individuum und Staat, Individuum und Population diskutiert.
Individualismus ist ein Gedanken- und Wertesystem, in dem das Individuum im
Mittelpunkt der Betrachtung steht.
In der Philosophie spielt der Gedanke der Individualität seit der Antike eine große
Rolle. Diskutiert wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein insbesondere die Frage nach
dem Individuationsprinzip, das heißt die Frage, was dafür verantwortlich ist, dass
Menschen und Gegenstände individuell sind.
Philosophen haben grundverschiedene Vorstellungen entwickelt, was Individu-
alität bedeutet und wie sie zustande kommt. Nach Aristoteles und Thomas von
Aquin werden Gegenstände durch Materie, nach Thomas Hobbes und Rudolf
Carnap durch Raum und Zeit, nach Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm
Friedrich Hegel durch die Selbstverendlichung des Geistes individuell.
Kulturen, Theologien und Religionen
Bei der Konzeption menschlicher Individualität ist das europäische Denken über
lange Zeit maßgeblich von der jüdisch-christlichen Theologie geprägt worden. In
dieser Tradition steht der einzelne Mensch als Person seinem Schöpfergott gegen-
über. Die menschliche Individualität gründet theologisch auf einer unverfügbaren,
unsterblichen Seele, die den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet.
Auch im Hinduismus existiert der Glaube an einen unvergänglichen Wesenskern
Atman, während im Buddhismus der Theravada- und Zen-Richtung die Vorstel-
lung eines metaphysischen Ich (Selbst) als fundamentale Selbsttäuschung gilt.
Nach der Lehre von Anatman (Nicht-Selbst) gibt es statt einem einheitlichen Ich
nur ein Bündel miteinander verbundener Bewusstseinsprozesse.
Psychologisch ist die Individualität eines Menschen als Eigenart des Handelns und
Verhaltens (Agierens und Reagierens) zu erkennen. Individuelle Unterschiede
zeigen sich in den Persönlichkeitseigenschaften, in den Einstellungen, Interessen
und Wertorientierungen, religiösen, philosophischen und politischen Überzeugun-
gen, in den Selbstkonzepten, im Sozialverhalten und Kommunikationsstil.
Im weiteren Sinn umfasst Individualität auch die persönlich gestaltete Wohn- und
Arbeitswelt (Gosling et al. 1995).
Mit der systematischen Beschreibung aller psychologischen Merkmale befasst sich
die Differentielle Psychologie. Individualität bedeutet hier eine sehr seltene oder
einmalige Kombination vieler (bzw. auffälliger) Einzelmerkmale eines Menschen
oder eines menschlichen Werkes. Im Einzelfall sind u. U. nur wenige Züge oder
Verhaltensmuster charakteristisch.
Eine andere Sichtweise der Individualität geht vom Bewusstsein des Einzelnen
aus. Von Einzigartigkeit und Einmaligkeit des Individuums ist also vor allem dann
zu sprechen, wenn es um Innerlichkeit und Befindlichkeit, Subjektivität und Inten-
tionalität des Menschen geht. Im persönlichen Befinden, im Erleben des eigenen
Körpers, in der Wahrnehmung der äußeren Welt ist uns eine innere Wirklichkeit
gegeben.
Sie hat eine besondere Beschaffenheit, eine eigene phänomenale Qualität, denn sie
wird gefühlt und erlebt und ist nur uns direkt zugänglich. Dieser Ichbezug ist ein
Aspekt der Subjektivität neben den persönlichen Erinnerungen, dem Innewerden
von Absichten (Intentionalität) und der Einsicht, in selbstbestimmter Weise hand-
eln zu können.
Der Verlust dieses Ichbezugs, d. h. ein anhaltendes Erleben von Fremdheit, Fremd-
steuerung, und andere Ich-Störungen (Depersonalisation) gelten als auffällige
Anzeichen der Psychopathologie bei bestimmten psychiatrischen Erkrankungen.
In der Selbstreflexion ist zweierlei gegeben: das unmittelbare und unbedingte
Wissen, sich von anderen Menschen zu unterscheiden, und die Gewissheit, trotz
aller, u. U. tiefreichender Veränderungen, mit sich selbst im Laufe der Zeit iden-
tisch zu sein. Individualität bedeutet hier die unverwechselbare Bewusstseinswelt
(Subjektivität) des Einzelnen und die Einmaligkeit jeder menschlichen Biografie.
Die in der Reflexion gegebene Individualität schließt das Selbstverständnis und die
gesamte individuelle Lebensauffassung einer Person mit ein, potenziell also das
Gesamt aller für sie wesentlichen Aspekte ihres Lebens: Individuum als Welt für
sich (siehe Hans Thomae).
In diesem Sinn ist die in der Lebensgeschichte geformte Biographie eines Men-
schen einmalig.
Ob jenseits dieser Individualität ein unbeschreibbares Innerstes, ein metaphysi-
sches Prinzip, eine Seele, existiert oder nicht, kann empirisch nicht beantwortet
werden, sondern bleibt eine philosophische und theologische Frage.
Die psychologische Individualität umfasst also alle Merkmale des Erlebens und
Verhaltens eines Menschen im Rahmen der Biographie.
Die Entwicklungspsychologie geht den Fragen nach, wie sich diese Individualität
aus den genetischen Anlagen unter den frühkindlichen Bedingungen und dem
Erziehungseinfluss der Eltern und anderer Bezugspersonen ausbildet.
Welche Prozesse des Lernens und der Identifikation finden statt, wie formen sich
dabei die Selbstkonzepte und wie verändern sie sich während der Lebensspanne?
Die Entwicklung dieser kognitiven Systeme bzw. des Wissens über sich selbst
bilden aktuelle Forschungsthemen der Psychologie.
In der Psychoanalyse Sigmund Freuds beziehen sich die Begriffe Ich-Werdung und
Ich-Reifung vor allem auf die sich entwickelnde Realitätskontrolle und die zuneh-
mende Kontrolle affektiv-triebhafter Impulse.
Für den psychischen Prozess der Selbstwerdung verwendet Carl Gustav Jung den
Begriff der Individuation. Der aus der Soziologie stammende Begriff Individuali-
sierung bezieht sich dagegen auf die zunehmende Vereinzelung von Menschen in
der Gesellschaft.
Die Sozialpsychologie befasst sich vor allem mit dem Sozialisationsprozess, der
Sozialisation, und mit der Spannung zwischen Individuum und sozialer Gruppe
bzw. Gemeinschaft. Aus der verallgemeinernden Sicht der Sozialpsychologie und
Soziologie werden – wie auch in der Allgemeinen Psychologie – nicht selten die
große Variabilität menschlicher Eigenschaften und die praktischen Konsequenzen
dieser individuellen Unterschiede übersehen („Soziologismus“). So wurde eine
Wiederentdeckung der Persönlichkeit in den empirischen Sozialwissenschaften
gefordert (Schumann 2005).
Die Individualität eines Menschen schließt auch die körperliche Individualität ein:
das Aussehen eines Menschen sowie eine Vielfalt anatomischer, physiologischer
und biochemischer Merkmale, in denen es große individuelle Unterschiede gibt –
siehe unten: körperliche (somatische) Individualität und Konstitution.
Frühkindliche Individualität und Empathie bei Hoffman und Gruen
Einige neuere Psychologen – unter anderem M. Hoffman (1975), insbesondere
aber Arno Gruen (Arno Gruen, Falsche Götter, 1991, S. 14 ff.) – gehen davon aus,
dass Individualität sich natürlich entwickelt, wenn sie nicht bereits in der
Individuationsphase unterdrückt wird.
Individualität entsteht aus derzeitiger Sicht der Psychologie und Pädagogik
zunächst durch Erkennen der Grenzen anderer Individuen (in frühkindlicher Phase
der Grenzen der Bezugspersonen). Durch das Erkennen derer Grenzen lernt bereits
das Kleinkind seine eigenen Grenzen kennen und entwickelt sie schrittweise
mittels „trial and error“.
Zur Erkennung dieser Grenzen ist jedoch Empathie Voraussetzung, diese dient als
„Brücke“ zur Erkennung der Grenzen Anderer und damit auch zur Erkenntnis
eigener Grenzen.
Arno Gruen sieht „natürliche“ Empathie als angeborene Fähigkeit, die aber in den
ersten zwei Lebensjahren nicht erkannt oder wahrgenommen wird, deswegen
verkümmert oder gar mit Ängsten besetzt wird (Arno Gruen, 1991, s. o.).
Die Entstehung von Individualität kann also gemäß Arno Gruen bereits in den
ersten zwei Lebensjahren gefördert oder gebremst werden – Letzteres auch heute
noch oft durch Angst einflößende Erziehungsmaßnahmen (in der Regel unbewusst
und kulturell begründet).
Umgekehrt kann Individualität gefördert werden, wenn besonders Kleinstkindern
(im 1. und 2. Lebensjahr) bereits geholfen wird, Grenzen anderer und die eigenen
Grenzen wahrzunehmen, jedoch ohne gleichzeitig negativ wirkende Emotionen
(vor allem Angst) auszulösen.
Schon das Kleinkind erreicht hierdurch eine stabile Bindung, die auf Vertrauen
basiert und hohe individuelle Qualität erreicht, insbesondere die Kommunikation
und den Anschluss an weitere Bezugspersonen oder Gruppen nicht verhindert oder
erschwert.
Martin Hoffman (1981) sieht, dass zusammen mit der Empathie ein ‚empathischer
Altruismus‘ bereits bei Kleinkindern als vorhanden vorausgesetzt werden kann, so
dass natürliche Empathie und natürlicher Altruismus zunächst eine Einheit sind,
deren Elemente nicht einzeln bestehen bleiben können.
Gemäß Hoffman (1981) und Gruen (2003) ist also zunächst die natürliche
angeborene Empathie in individualisierten Gesellschaften für jede Individualität
nötig, um Soziale Kompetenz zu entwickeln und diese Empathie wird gleichzeitig
von natürlichem Altruismus begleitet und gefördert.
In traditionellen sozialen Ordnungen – aber immer noch auch in moderneren
Gesellschaften – wird diese Doppeleinheit ‚Natürliche Empathie‘ und ‚Natürlicher
Altruismus‘ durch determinierte Empathie und lediglich gruppenbezogenen
Altruismus ersetzt, es entsteht die psychische Identität.
Entfällt jedoch das Regulativ einer traditionellen Ordnung, dann führt in ent-
grenzten Gesellschaften die (teilweise) Unterdrückung der Empathie und
gleichzeitig des natürlichen Altruismus zu zunächst allgemein egoistischem
Verhalten.
Dieser Egoismus kann dann durch kognitive Empathie zwar überwunden werden,
es besteht aber Reziproker Altruismus (auch invertierter R. A.), nicht mehr jedoch
natürlicher Altruismus.
Gemäß Gruen und anderen ist Individualität im weiteren Verlauf die Basis für
Kreativität, Motivation und Innovationsfähigkeit und allgemeine soziale
Kompetenz.
Wird diese Individualität jedoch unterdrückt (unter anderem durch traditionell
geprägte "Erziehung" in entgrenzten Gesellschaften), entsteht durch mangelnde
Empathiefähigkeit und Substituierung des natürlichen Altruismus durch Egoismus
(oft in Form von Individualismus) im weiteren Verlauf individuelle Erfolg-
losigkeit.
Arno Gruen sieht hierin die Ursache für immer häufiger – besonders bei
bildungsfernen Gruppen – auftretende individuelle Aggressionsbereitschaft in
Industriegesellschaften (Arno Gruen, Hass in der Seele. Verstehen, was uns böse
macht, 2001; vgl. Perspektiven der Entwicklungspsychologie, u. a. Asendorpf
2005).