Der zurückgetretene Chefredakteur von „Cumhuriyet“, Can Dündar, über
Erdogans Türkei, den Preis des Militärputsches und das Versagen Europas:
Erwarten Sie mehr Unterstützung von Europa?
Europa hat so viele Fehler begangen, ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Der
erste war, die Verhandlungen mit der Türkei für die Aufnahme in die EU abzu-
lehnen. Brüssel war immer ein starker Anker für die türkische Demokratiebewe-
gung. Seit 40 Jahren wartet die Türkei darauf, dass Europa seine Pforten
öffnet. Nun gibt es keine Europäische Union mehr, aber wir warten noch
immer.
Europa ist noch recht lebendig.
Zumindest existiert es nicht mehr für die Zukunft der Türkei. Aussagen wie
„Die Türkei könne nicht vor dem Jahr 3000 EU-Mitglied werden“ tragen nicht zu
einem besseren Verhältnis bei. Auch hat Europa sehr spät den blutigen
Putschversuch, bei dem über 250 Menschen ermordet wurden, verurteilt.
Erdogan hat sich von Europa abgewendet hin zu Saudi-Arabien, Katar und –
ganz aktuell – zu Russland. Sie sollten wissen, dass auch die Armenien-
Resolution des Deutschen Bundestags oder die satirischen Gedichte ...
Sie meinen Jan Böhmermanns Schmähkritik?
All das hat uns nicht geholfen. Ein weiterer Fehler war dieser beschämende
Flüchtlingsdeal: Wir behalten die Flüchtlinge auf türkischem Boden, dafür
mietet Europa ein Stück Land, auf dem wir die Flüchtlinge einsperren. Als
Dankeschön gibt es die Visa-Freiheit. Wir haben vorausgesagt, dass der Deal
nicht funktionieren kann. Ich bin sicher, Erdogan wird in einigen Wochen die
Tore öffnen.
Noch ist Zeit zu verhandeln.
Und was dann? Erdogan bekommt am Ende die Visa-Befreiung für ein Land, in
dem keine Freiheit herrscht? Die reichen Türken werden durch Europa reisen,
während wir im Gefängnis sitzen?
Der Flüchtlingsdeal schadet der demokratischen Bewegung?
Genau. Als ich Anfang des Jahres im Gefängnis saß, besuchte Angela Merkel
fünfmal in fünf Monaten die Türkei, um mit Erdogan zu verhandeln. Sie vermied
es peinlichst, sich zu Demokratie oder Menschenrechten zu äußern. Ich sah in
meiner Zelle im Fernsehen eine Pressekonferenz des damaligen Premierminis-
ters, Ahmet Davutoglu, mit Kanzlerin Merkel. Unser Premier wurde gefragt:
Was ist mit den inhaftierten Journalisten? Er antwortete: Es gibt keine Journa-
listen in den Gefängnissen. Und Angela Merkel sagte nichts. Ihre Sorge galt
allein den Flüchtlingen, nicht uns.
Wen meinen Sie eigentlich mit „wir“ oder „uns“?
Ich nenne es „die andere Türkei“, die stärkere. Sie dürfen die Türkei nicht auf
Erdogan reduzieren.
Wie kann diese „andere Türkei“ stärker als Erdogans Staat sein?
Weil wir eine demokratische Tradition haben. Wir glauben an europäische
Werte, die Menschenrechte, an die Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von
Mann und Frau und, ganz wichtig, an den Säkularismus – das ist die moderne
Türkei, die Türkei, die Mitglied der europäischen Familie sein möchte und die
ihr zurückgewiesen habt. Sie leidet unter Erdogan, der für das genaue
Gegenteil steht – plus Islamismus.
Lassen Sie uns zu einem weiteren Punkt kommen, der Bewegung des
Predigers Fetullah Gülen. Wie mächtig ist diese tatsächlich?
Das ist wie die Geschichte von Frankenstein: Erdogan wird von dem Monster
angegriffen, das er selbst erschaffen hat. Sie waren enge Partner. Erdogan
unterstützte die Organisation, gemeinsam schalteten sie Kritiker aus. Diese
Bewegung hat eine enorme Macht, die einen Staat im Staat aufgebaut hat. Sie
kontrollierte die Polizei, die Universitäten, die Verwaltung, den Justizapparat.
Sie ist eine sehr reale Bedrohung, auf die wir jahrelang hingewiesen haben.
Erdogan hat das ignoriert. Lange Zeit hatte er auch alles unter Kontrolle. Doch
ab einem gewissen Zeitpunkt war Gülen so mächtig, dass er sich nicht mehr
unterordnen wollte.
Lange schien die Türkei das einzige islamische Land mit einer funktionier-
enden Demokratie zu sein. Wo sehen Sie die Zukunft Ihres Landes?
Wir sind kein islamisches Land. Wir sind ein säkulares Land mit einer großen
muslimischen Bevölkerung, das einzige in der islamischen Welt. Es wäre daher
eine Chance für Europa gewesen, die Türkei aufzunehmen. Europa wäre nicht
länger ein christlicher Klub, gemeinsam hätte man Antworten auf den
Religionskrieg in der Welt finden können. Jetzt aber entwickeln wir uns in
Richtung eines islamischen Landes.
Spielt der Islam tatsächlich eine so entscheidende Rolle? Geht es nicht viel
mehr um Machtansprüche und um Geld?
Ich habe das auch lange gedacht. Aber jetzt spüre ich die Veränderung: Außer
in Ankara, Izmir und Istanbul ist es nicht mehr möglich, in der Türkei Alkohol in
der Öffentlichkeit zu trinken. Das ist Islam. In Restaurants, Bussen oder an
Stränden werden Männer und Frauen immer häufiger getrennt. So etwas gab es
nicht in der Türkei. Die Zahl der religiösen Schulen übersteigt bald die der
säkularen. Eine neue Generation Religiöser wächst heran. Autoritarismus
gemischt mit Islam ist ein gefährlicher Cocktail. Die Türkei ist zwar kein
Militärstaat mehr, dafür ist sie zum Polizeistaat geworden. Wir sitzen in der
Falle. Die moderne Türkei ist in Gefahr.
Wie ließen sich die demokratischen Kräfte in der Türkei unterstützen?
In Europa müsste man aufhören, immer nur gebannt auf Erdogan zu starren,
sondern jenen Gruppierungen helfen, die sich für eine moderne, säkulare und
demokratische Türkei einsetzen. Das ließe sich als Investition in die Zukunft
verstehen. Zum Beispiel würden Austauschprogramme für Schüler und
Studenten helfen oder Städtepartnerschaften, Parteien und Verbände könnten
enger zusammenarbeiten. Alles, was hilft, Angst und Vorurteile abzubauen, ist
willkommen. Anders gesagt: Helfen Sie uns in der Türkei, die Radikalen
loszuwerden und ein demokratisches Land aufzubauen.
Quelle und gesamter Artikel: http://www.fr-online.de/tuerkei/tuerkischer-journalist-duendar-
tritt-zurueck,23356680,34628678.html