“Mittlerweile hatte ich die Probezeit bei Maharaji bestanden und war auserkoren
worden, in Taiwan von ihm persönlich das geheime Wissen zu empfangen. Ich
konnte es kaum erwarten, von ihm in die vier geheimen Techniken der Meditation,
dier er “knowlege” nannte, eingeführt zu werden.
Am Tag vor der Sitzung war ich sehr aufgeregt. Ich stellte mir vor, wie die Meditati-
onstechniken mich schweben lassen, mich schütteln und reinigen würden. Am
Morgen ignorierte ich das hübsche taiwanesische Zimmermädchen, das offen mit
mir flirtete, obwohl ich seit einer Ewigkeit keinen Sex mehr gehabt hatte.
Ich ging zum Veranstaltungsort und saß unter Tausenden von Spiritualitätshun-
grigen aus aller Welt. Der Ton der Rede von Maharaji vor der Meditation war nicht
wie üblich. Seine sonst sanfte Stimme war angespannt. Wir mussten uns verpflich-
ten, die geheimen Techniken niemanden zu verraten, stets in Kontakt mit dem
Meister zu bleiben und ihm unser Leben lang zu dienen. Ohne Dienst für den Meister
würde der Samen des Wissens nicht aufgehen. Handelte es sich hier um ein weite-
res System? Ich wollte die Techniken erlernen und in meinem Leben damit eine
Metamorphose auslösen.
 Nachdem wir das Versprechen abgegeben hatten, verriet er uns die vier geheimen
Meditationstechniken, die zwar entspannend waren, jedoch keine spirituellen Erfah-
rungen vermittelten. Alle außer mir hatten feuchte Augen nach der langen Sitzung.
In mir aber war nicht der Hauch einer Erfahrung.
Woran lag es, dass ich für jede Form von Spiritualität verschlossen war? Zu stark
war ich offenbar in meiner gegenständlichen Welt verhaftet. Ich konnte die Existenz
anscheinend nur in ihrer nacktesten Form sehen. Vielleicht wurde der Teil, der in
meinem Gehirn für Spiritualität zuständig ist beschädigt. Oder kam ich möglicher-
weise ohne diesen Teil zur Welt? Aber warum suchte ich dann überall nach
seelischer Erfüllung? Warum erkannte ich nicht endlich, dass es weder Gott noch
eine Seele gibt? Nur mich, das Hier und Jetzt. Nur das, was ich sehen und anfassen
konnte. Aber war nicht der Wunsch, Gott zu spüren, schon ein Zeichen seiner
Existenz? ist der Durst nicht ein Beweis dafür, dass es irgendwo Wasser gibt?
Ich war unglaublich enttäuscht, die lange Reise nach Taiwan nur für ein paar Yoga-
ähnliche Übungen unternommen zu haben. Am nächsten Morgen hatte ich Sex mit
dem Zimmermädchen in meinem Hotel für zwanzig US-Dollar.”
 
 Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.232 ff.