NATO-Erweiterung, EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, die
Annexion der Krim, Wirtschaftssanktionen - wie sieht der russische Präsident
die Politik des Westens? Wladimir Putin sprach im exklusiven Interview über
den Standpunkt Russlands. Hier Auszüge aus dem Interviews, das er dem NDR
Autor Hubert Seipel gegeben hat und das am Sonntag (16.11.2014) bei Günther
Jauch in der ARD ausgestrahlt wurde:
Hubert Seipel: Deutschland hat letzte Woche 25-jähriges Jubiläum des Mauerfalls
in Berlin gefeiert. Ohne die Zustimmung der Sowjetunion 1990 wäre das gar nicht
möglich gewesen. Das war damals. In der Zwischenzeit hält die NATO wieder
große Manöver im Schwarzen Meer ab, nahe der russischen Grenze. Und russische
Bomber üben im europäischen internationalen Luftraum. Und, das hat heute,
glaube ich, der Verteidigungsminister gesagt, dass Sie bis in den Golf von Mexiko
sich erstrecken sollen. Das klingt alles im Grunde genommen nach einer
Wiederauflage des Kalten Krieges. Und ansonsten verbal wird auch ein rauer Ton
ausgetauscht. Der amerikanische Präsident Obama hat vor nicht allzu langer Zeit
gesagt, Russland sei eine Gefahr, so ähnlich wie Ebola und islamistische
Extremisten. Sie haben damals geschrieben, dass Amerika so eine Art Neureicher
ist, der glaubt den Kalten Krieg gewonnen zu haben. Und jetzt versucht, die Welt
nach seiner Idee zu formen, ohne andere Interessen zu berücksichtigen. Das klingt
doch schon nach Kaltem Krieg.
Putin: Nach 2001 gab es zwei Wellen der NATO-Erweiterung. Ich meine: 2004
wurde die NATO durch sieben Staaten erweitert: Das waren Slowenien, Slowakei,
Bulgarien, Rumänien, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen. Und
2009 wurden zwei weitere Staaten in die NATO aufgenommen. Das verändert den
geopolitischen Raum erheblich.
Darüber hinaus wächst die Anzahl von Stützpunkten. Sind es russische
Stützpunkte, die in der ganzen Welt verstreut sind? Nein. Das sind NATO-
Stützpunkte. Amerikanische Stützpunkte sind in der ganzen Welt verstreut, unter
anderem auch nahe unserer Grenzen. Und deren Anzahl wird größer. Darüber
hinaus wurden vor kurzem Entscheidungen über den Einsatz von Spezialkräften
getroffen. Und das wiederum in der unmittelbaren Nähe zu unseren Grenzen. Sie
erwähnten verschiedene Manöver, Flugzeuge, Schiffsbewegungen und so weiter.
Gibt es sie oder gibt es sie nicht? Ja, sie gibt es. Erstens, Sie sagten oder die
Übersetzung war nicht richtig, dass das im internationalen europäischen Luftraum
[stattfindet]. Der Luftraum ist entweder international und neutral oder europäisch.
So finden unsere Übungen ausschließlich in internationalen Gewässern und im
internationalen Luftraum statt. (...) Und deswegen nahmen wir vor einigen Jahren,
als wir sahen, dass nichts passiert, dass keiner einen Schritt auf uns zugeht, die
Flüge unserer Langstreckenflotte zur Überwachung wieder auf.
Hubert Seipel: Die Ukraine ist heutzutage mehr oder minder gespalten. Wir haben
über 4.000 Tote in der Zwischenzeit. Wir haben Hundertausende von Flüchtlingen
auch in Russland. Im Osten des Landes wollen russischsprachige Separatisten eine
weitgehende Autonomie, manche wollen den Anschluss nach Russland. Es gab
einen Waffenstilstand, das Minsker Abkommen, aber es gibt trotzdem jeden Tag
Tote. Das Land ist pleite. Bei diesem Konflikt haben eigentlich alle verloren. Die
Ukraine an erster Stelle, Europa, aber auch Russland. Wie sieht denn die Zukunft
der Ukraine aus?
Putin: Die Ukraine ist ein schwieriges Land. Und nicht nur in ihrer ethnischen
Zusammensetzung, sondern auch in Bezug auf den Weg hin zu ihrer heutigen
Form.
Ich glaube, natürlich gibt es eine Zukunft. Das ist ein großes Land, ein großes
Volk, 43 oder 44 Millionen Einwohner. Das ist ein großes europäisches Land mit
einer europäischen Kultur. Wissen Sie, es fehlt nur eins. Es fehlt, wie ich denke,
das Verständnis dafür, dass, um erfolgreich, stabil und wachsend zu sein, müssen
alle Menschen, die auf diesem Territorium leben, egal, welche Sprache sie
sprechen, Ungarisch, Russisch, Ukrainisch oder Polnisch, ein Gefühl dafür
entwickeln, dass dieses Territorium ihre Heimat ist. Dafür müssen sie das Gefühl
haben, dass sie sich selbst hier ganz und nicht weniger verwirklichen können, als
innerhalb irgendwelcher anderer Territorien. Und vielleicht sogar in bestimmten
Punkten besser. Und deshalb verstehe ich die Abneigung einiger politischer Kräfte
in der Ukraine nicht, sich überhaupt etwas über die Möglichkeit der
Föderalisierung anzuhören. Ok, jetzt bekommen wir zu hören, dass es nicht um die
Föderalisierung, sondern um Dezentralisierung gehen kann. Das ist ein Spiel. Mit
Worten. Man muss verstehen, was mit diesen Begriffen gemeint ist –
Dezentralisierung, Föderalisierung, Regionalisierung. Man kann noch Dutzende
Wörter kreieren. Es ist wichtig, dass die Menschen, die dort leben, es begriffen
haben, dass sie ein Recht auf etwas haben. Dass sie etwas in ihrem Leben selbst
entscheiden können.
Hubert Seipel: Die zentrale Frage im Westen ist: Bleibt die Ukraine als
eigenständiger Staat in dieser Konstellation, wie es ist, erhalten? Das ist eine
zentrale Frage, die sich an sich dort stellt. Die zweite Frage ist: Kann Russland
mehr tun, hat Russland nicht noch mehr Einfluss in der Ukraine, um darauf
hinzuwirken, dass dieser Prozess sozusagen schneller und unter den
Vereinbarungen im Minsker Prozess beispielsweise umgesetzt wird?
Putin: Wissen Sie, wenn wir zu hören bekommen, dass wir über besondere
Möglichkeiten verfügen, die eine oder andere Krise zu lösen, macht es mich immer
stutzig. Ich habe immer den Verdacht, dass es ein Versuch ist, uns die
Verantwortung aufzuerlegen, uns zusätzlich für etwas zahlen zu lassen. Das wollen
wir nicht. Die Ukraine ist ein eigenständiger, unabhängiger, souveräner Staat. Ich
sage es direkt: Wir sind sehr besorgt, dass der Wunsch aufkommen könnte, dort
ethnische Säuberungen durchzuführen. Wir haben Angst, dass die Ukraine in diese
Richtung abdriften könnte, zum Neonazismus. Es sind ja Menschen mit dem
Hakenkreuz am Ärmel unterwegs. Auf den Helmen von Kampfeinheiten, die im
Osten der Ukraine kämpfen, sehen wir SS-Symbole. Wenn es ein zivilisierter Staat
ist – wo schaut die Regierung hin? Sie könnte ihnen wenigstens diese Uniformen
wegnehmen. Sie könnte die Nationalisten zwingen, diese Symbolik abzulegen.
Deswegen befürchten wir, dass es ein Abdriften in diese Richtung geben könnte.
Das wäre eine Katastrophe für die Ukraine und das ukrainische Volk.
Die Minsker Vereinbarung wurde nur aus dem Grund getroffen, weil wir –
Russland – uns engagiert haben, auch mit den Milizen des Donezbeckens, das
heißt, des Südosten der Ukraine, gearbeitet haben und sie überzeugt haben,
bestimmte Vereinbarungen einzugehen. Wenn wir das nicht getan hätten, wäre es
gar nicht dazu gekommen. Es gibt zwar bestimmte Probleme bei dieser
Vereinbarung, bei der Umsetzung dieser Vereinbarung. Welche Probleme sind
das? Tatsächlich werden einige Ortschaften, aus denen bewaffnete Truppen der
Milizen abziehen sollen, nicht geräumt. Wissen Sie, warum? Ich kann es offen
sagen, es ist kein Geheimnis. Denn diese Menschen, die dort gegen die ukrainische
Armee kämpfen, sagen: „Das sind unsere Dörfer, unsere Heimatdörfer. Dort leben
unsere Familien, Menschen, die uns nahe stehen. Wenn wir abziehen, marschieren
nationalistische Bataillone ein und bringen alle um. Ihr könnt uns töten, aber wir
rücken nicht ab“. Das ist eine komplizierte Frage. Natürlich versuchen wir, zu
überzeugen, wir führen Gespräche, aber wenn so etwas gesagt wird, bleiben nicht
viele Argumente.
Aber auch die ukrainische Armee räumt bestimmte Gebiete nicht, die sie räumen
soll. Die Milizen – gut, es sind Menschen, die um ihre Rechte, um eigene
Interessen kämpfen. Aber wenn die ukrainische Regierung nicht mal eine
Trennungslinie definieren will, was heute sehr wichtig wäre, um das Beschießen
und Morden zu stoppen, sondern die territoriale Integrität des Landes bewahren
will… dann spielt es keine Rolle, um welches Dorf oder um welche Ortschaft es
sich konkret handelt, es ist wichtig, dem Blutvergießen und dem gegenseitigen
Beschuss ein sofortiges Ende zu setzen, einen Rahmen für die Aufnahme eines
politischen Dialogs zu schaffen. Das wäre wichtig. Das passiert nicht. Es gibt
keinen politischen Dialog. Für diesen langen Monolog bitte ich um
Entschuldigung, aber Sie zwingen mich förmlich, auf den Kern des Problems
zurückzukommen. Worum geht es? Es kam zu einem Umsturz in Kiew? Ein
großer Teil des Landes unterstützte den Umsturz und freute sich, unter anderem
weil man annahm, dass im Rahmen des unterzeichneten Assoziierungsabkommens
Grenzen geöffnet werden, dass es möglich sein wird, in der Europäischen Union,
unter anderem in Deutschland zu arbeiten, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen.
Das hat man sich so vorgestellt. Übrigens steht in Wirklichkeit nichts dergleichen
darin. Ein anderer Teil des Landes, der Südosten, hat den Umsturz nicht
unterstützt, hat gesagt: „Wir erkennen euch nicht an“. Und anstatt den Dialog
aufzunehmen, anstatt diesen Menschen zu erklären, dass die Regierung in Kiew
nichts Schlimmes im Schilde führt, dass sie, ganz im Gegenteil, unterschiedliche
Modelle für das Zusammenleben, für den Aufbau eines gemeinsamen Staates
vorschlagen und Rechte gewähren wird… stattdessen wurden Menschen nachts
verhaftet. Sobald die nächtlichen Verhaftungen begannen, griffen die Menschen im
Südosten zur Waffe. Sobald sie zur Waffe griffen, hat die Regierung, anstatt
aufzuhören, - sie hätte ja weiser sein und einen Dialog aufnehmen sollen – eine
Armee hingeschickt, Luftwaffe, Panzer, Raketenwerfer. Kann man einen Ausweg
daraus finden? Ja, davon bin ich überzeugt.
Hubert Seipel: Werden Sie einen neuen Vorschlag machen für die Ukraine, für
die Lösung der Probleme dort?
Putin: Frau Bundeskanzlerin ist in alle Einzelheiten des Konfliktes tief involviert,
und hat, wie ich nochmals hervorheben möchte, beispielsweise für die Lösung der
Probleme im Energiebereich viel geleistet. Was Sicherheitsfragen angeht, so sind
hier unsere Meinungen und Ansätze bei Weitem nicht immer gleich. Es ist aber
klar, dass Russland und die Bundesrepublik Deutschland eine Beruhigung der
Situation wünschen. Wir haben ein Interesse daran, wir werden die Einhaltung der
Minsker Vereinbarungen anstreben. Es gibt nur einen Umstand, auf den ich immer
aufmerksam mache. Wir bekommen immer zu hören: Da sind prorussische
Separatisten, sie müssen dies tun, sie müssen jenes tun, nehmen Sie Einfluss,
machen Sie das so. Ich frage immer: Und was haben Sie gemacht, um auf Ihre
Klientel in Kiew Einfluss zu nehmen? Was haben Sie denn getan? Sind Sie auf
deren Seite, unterstützen Sie nur irgendwelche russenfeindlichen Haltungen? Was
übrigens sehr gefährlich ist. Es wäre eine Katastrophe, wenn jemand heimlich
Russenfeindlichkeit in der Ukraine unterstützen würde. Eine Katastrophe. Oder
werden wir nach gemeinsamen Lösungen suchen? Dann müssen wir die
Standpunkte annähern, dann müssen wir – ich sage jetzt etwas, was vielleicht auch
in Russland nicht jeder gerne hören wird – versuchen, einen einheitlichen
politischen Raum in diesen Gebieten zu schaffen. Wir sind bereit, uns in diese
Richtung zu bewegen, aber nur gemeinsam.
Gesamtes Interview siehe: http://www.ndr.de/nachrichten/Putin-und-der-russische-
Standpunkt,putininterview108.html
Weitere Details zu diesem Interview von Putin, sowie die Reaktionen darauf, siehe auch auf 
tagesschau.de (http://meta.tagesschau.de/id/92200/putin-in-der-ard-ein-interview-und-seine-
folgen)  
Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident und heutige Vorsitzende des
Deutsch-Russischen Forums, Mathias Platzeck, warnt jedenfalls davor, die Tür zu
Verhandlungen mit Putin zuzuschlagen. Putin auszugrenzen, wie auf dem G20-
Gipfel in Brisbane geschehen, sei keine gute Strategie. Man müsse nichts von dem
gut finden, was er tut. Doch sei die Schicksalsgemeinschaft auf dem Kontinent mit
Russland unverrückbar, sagte Platzeck im Deutschlandfunk. Bisher hätte Russland
"Augenhöhe und Respekt nicht gespürt".