Ritual der “eigenen Beisetzung”
Rajiv Parti hatte dieses Ritual in einem Ramakrishna-Ashram im Himalaja
kennengelernt, in dem er sich als Student einmal kurzfristig aufgehalten hatte. Er
hatte sich damals gewundert, weil die Mönche dort alle glücklich wirkten. Und er
nahm an, dass das darauf zurückzuführen war, weil sie eine glückliche Kindheit
hatten.
Doch das Gegenteil war der Fall: „Aus purer Neugier fragte ich einige der
Mönche, wie ihre Kindheit gewesen sei. In der Erwartung, sie hätten immer so ein
reines, ideales Leben geführt, war ich erstaunt zu hören, dass manche eine schlim-
me Kindheit gehabt hatten, voller Armut und Missbrauch. Doch während sie mir
ihre Geschichten erzählten, lächelten sie.
Ich fragte einen der Mönche, wie er seine Vergangenheit hinter sich gelassen habe.
„Schmerz ist unvermeidlich, aber wir leiden freiwillig,“ sagte er und meinte damit,
dass wir nicht an Gedanken festhalten müssen, die uns leiden lassen.
Ich fragte einen anderen Mönch, wie er seine Vergangenheit hinter sich gelassen
habe. War er denn nicht wütend wegen der Schmerzen, die ihm als Kind zugefügt
worden waren?
„Ich habe gelernt, die Wut loszulassen“, sagte er in der kichernd unbeschwerten
Art, die vielen Hindu-Mönchen zu eigen ist. „Der Buddha sagte, dass an der Wut
festzuhalten so ist, als greife man nach einem Stück heißer Kohle in der Absicht, es
auf jemanden zu werfen. Dabei ist man selbst der Erste, der sich verbrennt.“
Alle Mönche sprachen davon, dass sie eine Zeremonie durchlaufen hatten, um sich
von der Vergangenheit zu läutern. Diese wurde umgangssprachlich als „meine
eigene Beisetzung“ bezeichnet. Sie wird von allen Novizen mit dem Ziel voll-
zogen, sich von der Vergangenheit reinzuwaschen, ob sie nun gut oder schlecht
war, und ihnen eine Wiedergeburt in die Welt zu ermöglichen, sodass ihre neue
geistige Einstellung ihr Herz und ihre Seele ganz ausfüllen kann. Sie werden im
Prinzip zu neuen Menschen, spirituell neugeboren.“ (S.185ff.)
Später fand Rajiv Parti heruas, dass Mönche und Nonnen in vielen Religionen
solche Zeremonien durchführen. Die meisten, die diese Zeremonie durchlaufen,
trennen alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit, und es ist ihnen nur selten,
wenn überhaupt, erlaubt, mit ihrer Familie und ihren alten Freunden in Kontakt zu
bleiben. Sie wenden sich voll und ganz dem geistigen Leben zu. So ernst ist es
ihnen damit, zum spirituellen Sein zu gelangen.
Rajiv Parti führte diese Zeremonie aus, nachdem er im Krankenhaus seine Stellung
gekündigt hatte, da er, dem Ruf des Lichtwesens folgend, sich fortan seiner neuer
Berufung als Heiler widmen wollte.
Er schreibt dazu: „Ich hatte kein Interesse daran, meine Familie zu verleugnen. Ich
wusste, dass ich nichts war ohne meine Familie, genau wie ich wusste, dass ich et-
was in mir heilen musste. Aber ich wollte anerkennen, dass ich ein neuer Mensch
geworden war und etwas von meiner Vergangenheit hinter mir lassen musste, um
die spirituelle Mission zu erfüllen, zu der ich berufen worden war.
Vor diesem Hintergrund beschloss ich, jetzt „meine eigene Beisetzung“ zu zele-
brieren, genau dort auf der Terrasse unserer palastartigen Villa im Zentrum des
„Volltreffers“.
Ich holte meine gesamte OP-Bekleidung aus dem Schrank, legte sie sorgfältig
zusammen und bekundete damit Respekt gegenüber dem, wofür sie stand.
Dann trug ich alle Bücher über Börsenhandel aus meiner Spielerzeit zusammen,
dazu ein paar Fläschchen mit Schmerztabletten, die für meine Sucht standen;
diverse Werbeseiten aus einschlägigen Zeitschriften für Autos, die ich hatte kaufen
wollen; ein Foto von meinem Vater aus einer Zeit unseres gemeinsamen Lebens,
die ich vergessen wollte, sowie andere Dinge und Bilder, die getrost zu Asche
werden konnten.
Ich trug den ganzen Stapel auf die Terrasse und schichtete ihn am Grillplatz zu
einem Scheiterhaufen auf. Ich kippte eine Dose Flüssiganzünder über die Sachen
und zündete ein Streichholz an. Als das Feuer aufloderte, explodierte meine Ver-
gangenheit in einem Feuerball. Ich hätte nicht glücklicher sein können.“ (S.186)
Anschließend schrieb Rajiv Parti drei Briefe (einen an Gott, einen an seinen Vater
und einen Brief an sich selbst), in denen er Gott, seinen Vater und sich selbst um
Vergebung bat.
Er las einen Brief nach dem anderen laut vor. Nachdem er über den Inhalt
nachgedacht hatte, riss er jeden Brief in vier Stücke und warf sie ins Feuer.