Veränderungen der Satanskonzeptionen ab dem 16. Jahrhundert
Mit der Reformation zerbrach die Einheit der christlichen Religion, der Ordo des
Mittelalters begann sich aufzulösen. Die Theologie verlor den Charakter einer
selbstverständlichen Leitwissenschaft mehr und mehr an die Naturwissenschaften,
sie musste sich nun vor den Prinzipien der Aufklärung verantworten, zu deren
Kerngedanken unter anderem jene der Selbstverantwortlichkeit und Autonomie des
Individuums gehören.
In philosophischen Überlegungen jener Zeit hinsichtlich Ursprung und Ursache
des Bösen werden diese Grundgedanken deutlich. Der Aufklärer Immanuel Kant
beispielsweise (1724-1804) deutete das Böse als eine Form von Selbstliebe des
Menschen, die über das moralische Gesetz gestellt wird. Demnach wird das
moralische Gesetz nur befolgt, wenn es dem Selbst dient. Die Ursache des Bösen
liegt damit im Menschen selbst.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) erkennt die Ursache für das Böse ober-
flächlich in den verderblichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen,
tiefer betrachtet aber in der menschlichen Freiheit.
Kunst und schwarze Romantik
Die Veränderungen, denen das Satansbild unterlag, werden deutlicher im Bereich
der Kunst und der schwarzen Romantik. Die Teufelsdarstellungen des Mittelalters
zeigen den Höllenfürsten und sein Gefolge oft abschreckend, furchteinflößend,
hässlich.
Sie werden als monströses Schreckbild, als Drache oder in Tiergestalt, sowie in
ihrer Funktion als Verantwortliche für die Höllenqualen der Verdammten
abgebildet. Die Gleichsetzung von hässlich und böse/schlecht findet hier ihren
vielleicht deutlichsten Ausdruck.
Ab dem 16. Jahrhundert entstehen Gemälde, die Satan nicht mehr ausschließlich
hässlich und abstoßend zeigen, sondern, wenn auch nur in einzelnen Werken, den
Aspekt des gefallenen Engels betonen.
Satan bzw. Luzifer hat nun – wie beispielsweise in den Gemälden "Der heilige
Michael und Satan" von Raffael Santi (1518), bei Lorenzo Lottos "Der heilige
Michael verjagt Luzifer" (um 1555), in Tintorettos "Versuchung Christi" (um
1578) oder in "Erzengel Michael treibt die rebellierenden Engel in den Abgrund"
von Luca Giordano (1655) - einen eher sinnlichen Körperbau und sein Gesicht ist
ausdrucksvoll dargestellt. Es drückt menschliche emotionale Zustände wie z. B.
Furcht, Trauer, Verlangen oder auch Entsetzen aus. Sinn dieser vereinzelten Arten
der Abbildungen Satans könnte unter anderem die Darstellung der Vermensch-
lichung des Bösen aber auch die deutliche Hervorhebung der verführerischen (weil
schönen) Kraft der Sünde sein.
In den Illustrationen von Gustave Doré (1832-1883) zu Miltons „Verlorenem
Paradies“ ist die Veränderung der Satanskonzeption noch deutlicher erkennbar.
Der Teufel wird in seinem Schmerz nach dem Sturz aus der Herrlichkeit abgebil-
det, als Verwundeter, aber auch in seinem Neid Adam und Eva gegenüber. Er ist
von schöner Gestalt und hat ein menschliches Gesicht, das seine Gefühle sichtbar
ausdrückt. Satan ist hier schön, obwohl er böse ist.
Im Bereich der Literatur wird die Änderung der Satanskonzeption spätestens in
John Miltons Paradise Lost (1658-1665) deutlich. Hier ist Satan Rebell, unbeug-
sam und stolz, doch auch von trauriger Wesensart. Miltons literarischer Kunstgriff
liegt in seiner Darstellung Satans, in dessen Hoffnungslosigkeit, die sich in seinem
Hass angesichts all dessen, was ihn an seine frühere Herrlichkeit erinnert, aus-
drückt.
Im Unterschied zu früheren Teufelsdarstellungen erhält Miltons Satan das Brand-
mal des gefallenen Schönen. Er ist nicht länger hässlich und abstoßend. Satan
verkörpert hier nicht nur Lüge, Neid, Hochmut und Hass, sondern stellt ebenso
Heldenhaftigkeit, Intelligenz und Ausdauer dar. Er ist der tragische Held des
Paradise Lost, nicht völlig frei von der Fähigkeit zu Mitleid und Reue. Im
Verlorenen Paradies Miltons behält die Figur Satans, neben der Darstellung des
Teufels in seiner Schönheit und Tragik, den Makel der Schuld am Zustand der
Sünde.
Dieses Bild ändert sich in den Werken der schwarzen Romantik, die häufig
heute neben bestimmten philosophischen Schriften von satanistischen Gruppen als
Grundlagenliteratur zum Satanismus empfohlen werden.
Die schwarze Romantik wendet sich Themenbereichen des abseitig-exzessiven
Verhaltens zu, dem Bereich des Dämonischen, des Grotesken. Moralische Ab-
gründe werden thematisiert. In Bezug auf die Konzeption Satans bedeutet dies: Er
ist nun schön, weil er böse ist. Innerhalb der schwarzen Romantik bildete sich der
literarische Satanismus, in dem Satan als der gefallene Rebell, mit dem die "gute
Sache" unterliegt, thematisiert wird.
Zu den Werken des literarischen Satanismus, die auf den modernen Satanismus
und seine Konzeption der Teufelsgestalt stark Einfluss genommen haben, zählt
„Cain: A Mystery“ von Lord George Gordon Byron (1788-1824).
Viele Elemente des Cain lassen sich in der Vorstellungswelt zeitgenössischer
Satanisten wiederfinden: Satan/Luzifer, der den Menschen Wissen – das Licht der
Erkenntnis – bringt, Satan der Menschenfreund, der Individualist, der seinen
eigenen Weg geht, aber auch die Darstellung des Schöpfergottes als willkürlicher
Demiurg.
Als 1857 „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire erstmals erschienen,
drückten die darin enthaltenen Litaneien Satans das Bild noch eindurcksvoller aus,
das Milton und Byron zu zeichnen begonnen hatten. Satan wurde zum Gott er-
hoben, der um Erbarmen gebeten wird. Er ist nicht mehr Gegenspieler Gottes,
sondern eigenständig geworden. Hier findet der vielleicht deutlichste Übergang zur
Satanskonzeption des zeitgenössischen Satanismus statt.
Weitere Autoren, deren Werke auf verschiedene Konzepte des zeitgenössischen
Satanismus Einfluss genommen haben sind Giosuè Carducci und seine Hymne
„A Satana“, Abbé Alphonse Lois Constant, besser bekannt unter dem Namen
Éliphas Lévi, der Luzifer (den er von Satan unterscheidet) das "non serviam"
deutlich zuschrieb. Luzifer wird bei Lèvi positiv gedacht als die notwendige
Voraussetzung zur vollkommenen Erfahrung Gottes.
Alternative Satanskonzeptionen finden sich in der Folgezeit z. B. in der theosophi-
schen Rede von Satan als "Gegenstand erster Notwendigkeit" (Eckert o.J., 150),
der in Gestalt der Schlange der Bewusstwerdung des Menschen dient.
Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie trennt die Konzepte Luzifer und
Ahriman, wobei Ahriman mit Satan gleichgesetzt wird. Ahrimanische Wesen-
heiten versuchen nach Steiner den Menschen ganz in die sinnliche Welt zu
verstricken, Luzifer bringt dem Menschen individuelle Freiheit und moralische
Erkenntnisfähigkeit, verführt aber auch zu Egoismus und moralischen Verfeh-
lungen.
Aleister Crowley liefert unter anderem mit dem Kerngedanken seines "Liber Al
vel Legis", dem so genannten "Thelemitischen Gesetz" (Tu was Du willst sei das
ganze Gesetz) (Crowley 1993, 40, 110f) sowie dem in diesem Werk propagierten
Sozialdarwinismus eine weitere Betonung des individuellen Willens und der
individuellen Verabsolutierung des Menschen, welche in zeitgenössisches satanist-
isches Gedankengut einfließt.
Quelle:
https://www.historicum.net/themen/hexenforschung/lexikon/sachbegriffe/art/Satanismus/html
/artikel/7112/ca/79e8fb305c/