Udo Jürgens blickt in seiner Autobiographie „Der Mann mit dem
Fagott“ nochmals auf dieses historische Ereignis zurück:
Ein Stück aus der Mauer – Hannover, 11.11.1989:
„Ja, die Berliner Mauer ist vor zwei Tagen gefallen! Unaufhaltsam, unvor-
hergesehen und immer noch unbegreiflich. Und ich war dabei.
In einem unergründlichen Zufall hat die Tournee mich mitten ins Zentrum des
wahrscheinlich wichtigsten historischen Ereignisses seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges geführt – mit einem Konzert in Berlin, gestern, am ersten Tag der
neuen Freiheit, das erste Konzert überhaupt in der nicht mehr geteilten Stadt.
Nur wenige Stunden ist es her, seit ich letzte Nacht gemeinsam mit meinem
Orchesterchef Pepe Lienhard und einigen Freunden in einem noch nie erlebten
Taumel am Brandenburger Tor stand. Wir sahen Menschen, die sich durch
schmale Maueröffnungen zwängten, auf der Mauer tanzten, dort, wo sie noch
stand, sich auf beiden Seiten des Todesstreifens in die Arme fielen, sahen Tränen
und hörten Jubelschreie, waren Teil eines Meeres der ungezähmten Emotion, und
erscheint mir immer noch irreal, wie ein merkwürdig intensiver, fremdartiger
Traum.
Ich hatte noch keine Zeit zu begreifen. Mein Leben scheint gerade in diesen Tagen
beinahe ausschließlich aus Gegenwart zu bestehen, Augenblicke, die erlebt werden
und vergehen, ohne verarbeitet, gedeutet und mit Seele und Verstand erfasst zu
werden.
Vor allem in diesen Tagen ist jedes Zeitgefühl in mir verlorengegangen. Seit fast
zwei Monaten bin ich unter dem Motto: „Ohne Maske“ auf Tournee. Fast täglich
ein Konzert, Reisen von einer Stadt zur nächsten, insgesamt ein halbes Jahr, mehr
als 120 Auftritte lang. Das meiste liegt noch vor uns. Emotionen liegen blank,
Eindrücke verwischen. Wo war ich gestern? Vorgestern? Letzte Woche? Ich muss
in meinem Kalender nachsehen, um mich zu erinnern, und der Tunnel der
routinierten Abläufe – reisen, auspacken, Soundcheck, Konzert, Abendessen,
schlafen, Koffer packen, wieder reisen – und der alles anderes als routinierten
Gefühle, Abend für Abend auf der Bühne gelebt, ist noch lang und lässt eigentlich
keinen Raum für Außergewöhnliches. Schon das Normale wirft uns immer wieder
in einen schier unbezwingbaren Sog von Gefühlen. Wie soll man da auch noch
ohnehin unbegreifliche Ereignisse wie den Mauerfall, die völlige Neuordnung der
Geschichte, gedanklich erfassen, verstehen, sich setzen lassen?
Augenblicke ganz für mich allein sind selten. Meistens kann ich sie auch schwer
ertragen, umgebe mich mit Menschen, Ablenkungen, um nicht plötzlich auf mich
selbst zurückzufallen, den aufgewühlten Gedanken nicht schutzlos ausgeliefert zu
sein. Die gefürchtete Einsamkeit der Nächte immer wieder in flüchtigen Begeg-
nungen erstickt. Kurze Lieben, die mit dem Anbruch des neuen Tages abgelebt
waren, ein Abschied, ein Anruf, vielleicht nach Monaten ein Wiedersehen. Immer
bemüht, zumindest eine gewisse Würde zu wahren, wenn es auch sicher nicht
immer gelang. Meistens wenigstens mit Dankbarkeit, und doch nie von Dauer.
Bin ich überhaupt fähig zu lieben, mit jener Ernsthaftigkeit, die ich manchmal nur
aus Romanen und Filmen und meinen eigenen Liedern zu kennen glaube? Müßte
ich es sein? Es sind immer noch die gleichen Fragen wie vor dreißig Jahren, die ich
mir stelle, und ich muss immer noch der gleichen Antwort entgegensehen:
„Wahrscheinlich nicht ….“
Wird man mit zunehmendem Alter reifer? - Ich fürchte, nein. Und macht diese
Unfähigkeit zu lieben mich stark oder schwach? Egoistisch oder unabhängig? Frei
oder gefangen in mir selbst, ohne mich mit der Absolutheit der anderen auf einen
Menschen einlassen zu können? Geht mir dadurch etwas Wichtiges verloren,
etwas, das ich nicht einmal erahnen kann? Und warum bin ich nicht bereit, den
Preis dafür zu bezahlen, den Verlust der Freiheit hinzunehmen für ein Mehr an
Nähe? Oder lebe ich meine Gefühle vielleicht viel zu sehr in meinen Liedern aus,
so, dass für das „wirkliche Leben“ vielleicht einfach nicht mehr genug übrigbleibt?
Soll ich darüber traurig sein oder froh? Ich weiß es heute genausowenig wie vor
dreißig Jahren.
Vor wenigen Monaten sind Panja und ich geschieden worden. Wir haben es lange
geplant. Getrennt waren wir ja ohnehin schon seit Jahrzehnten, seit zwei Jahren
gehen unsere Kinder Jenny und Johnny ihre eigenen Wege. Panja und ich haben
den Drahtseilakt, eine verstorbene Ehe in Vertrauen und Freundschaft zu verwan-
deln, geschafft, und auch das „Getrennt-Zusammenleben“, das Selbstverständnis,
eine Familie zu sein, haben wir gut bewältigt. Nur hat es sich jetzt überlebt, und es
ist Zeit für eine neue Freiheit. Für beide von uns.
Der Park, an dessen Rand das Hotel und der Konzertsaal liegen, ist beinahe
menschenleer. Nur ein altes Paar sitzt in dicken Mänteln auf einer Parkbank und
füttert Tauben. Der Mann nimmt lächelnd für einen Augenblick die Hand der Frau.
Gelebtes, gemeinsames Leben, Zueinanderstehen, Liebe, die das Leben besiegt
und besteht. Es berührt mich. Es trifft mich tief in der Seele und gibt mir ein
Gefühl großer Unzulänglichkeit und Einsamkeit. Für einen winzigen Moment
beneide ich die beiden. Ich singe darüber, und diese beiden leben es.
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch, spüre das Mauerstück in meiner
Tasche wie einen körperlichen Beweis dafür, dass das, was gerade in Berlin
geschehen ist, Wirklichkeit ist. Manchmal muss ich mich dessen für einen Augen-
blick vergewissern, muss das Stück Beton spüren, sehen, erfassen, um mir sicher
zu sein. Es schien plötzlich so einfach zu sein: Mauerplatten, die der Kraft und
Entschlossenheit der Menge nicht lange standhielten. Was für ein unüberwind-
liches Gewicht hatten sie noch vor Tagen gehabt? Wie unüberwindlich, für die
Ewigkeit gebaut, schien die Mauer da?
Noch weiß keiner, ob diese neue Freiheit nicht nur ein schöner Spuk ist, der
vorübergeht. Ist Deutschland wieder ein geeinter und freier Rechtsstaat, wie es in
der Hymne heißt? Wird die DDR-Regierung abtreten oder wird sie doch noch
irgendeinen Weg finden, die Macht mit Hilfe der Schutzmacht UdSSR wieder an
sich zu reißen und zurückzuschlagen und diese Tage damit zum historischen
Intermezzo werden zu lassen, als dessen einzige Folge leicht gelockerte
Reisebedingungen bleiben?
Warum es wieder ausgerechnet der 9. November war, das Datum, das in der
deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts so ein schicksalsträchtiges ist, das wird
man ohnehin niemals beantworten können. Am 9. November 1918 hat man den
deutschen Kaiser Wilhelm II. zur Abdankung gezwungen und innerhalb von zwei
Stunden die Deutsche Republik unter Philipp Scheidemann und die Freie
Sozialistische Republik unter Karl Liebknecht ausgerufen, der Beginn einer Ära
voll von politischem Chaos. Genau fünf Jahre später, am 9. November 1923, hatte
Hitler mit einem Putschversuch in München zum ersten Mal vergeblich nach der
Macht gegriffen. Weitere fünfzehn Jahre später, wiederum am 9. November 1938,
folgte ein Akt der Barbarei und Menschenverachtung, der Deutschland in die
dunkelste Zeit seit Menschheitsgedenken katapultierte: die „Reichskristallnacht“,
die Nacht der Pogrome.
Und nun, genau 51 Jahre später, hat sich ausgerechnet in jener Nacht des
9.November die Menschlichkeit und Freiheit durchgesetzt, hat die Mauer zwischen
Ost und West eingerissen und – so hoffen wir alle – eine neue Ära der Humanität
und Freundschaft begründet. Was für eine Zeit! (…)
Vielleicht ein Schritt zu einem wieder geeinten Land, zu einem endlich vereinten
Europa, dem Lebenstraum meines Großvaters und meiner Eltern. Ein Europa der
Freiheit, der Freundschaft, der Offenheit, des Vertrauens, der Kultur, der
Demokratie, ein Europa, zu dem selbstverständlich auch Rußland gehört,
zumindest der westliche Teil davon, ein Anknüpfen an frühere Gemeinsamkeiten.
Ein Europa, das Dresden, Prag, Warschau, Budapest, St.Petersburg und Moskau
genauso einschließt wie Paris, London, Wien, Berlin.
Ein Schauer der Begeisterung läuft mir bei dem Gedanken über den Rücken.
Natürlich sind das alles noch immer nur Träume, aber wer nie zu hoch greift,
erreicht nie die Sterne, und vielleicht sind wir in diesen Tagen diesen Träumen ja
tatsächlich einen Riesenschritt näher gekommen.
Langsam muß ich zurückgehen. Schließlich habe ich heute abend ein Konzert zu
spielen, auch wenn ich es mir immer noch nicht wirklich vorstellen kann. Ein
wenig kommt es mir sogar lächerlich vor, heute abend aufzutreten – als hätte die
Geschichte sich nicht gerade in einer friedlichen Revolution völlig auf den Kopf
gestellt. Was bedeutet in diesen Tagen schon „Musik machen“? Was können
Lieder in Zeiten wie diesen bedeuten? Das Konzert ist ausverkauft, aber werden
die Menschen wirklich ein Konzert hören wollen, anstatt (…) im Fernsehen
gebannt die Berichte zu verfolgen, die sich beinahe stündlich mit Neuigkeiten
überschlagen? (…)
Das alte Paar ist aufgesgtanden, kommt mir Hand in Hand entgegen. Scheu sieht
der Mann mich an, überlegt offensichtlich, ob er mich ansprechen soll. Ich lächle
ihn an, sie lächeln beide zurück. „Entschuldigen Sie, wenn wir Sie ansprechen. Sie
haben uns mit ihren Liedern schon viel Kraft gegeben, und wir möchten Ihnen
danken. Wir freuen uns auf heute abend …“
Ich bedanke mich, sehe ihnen noch lange nach, wie sie davonschlendern. Plötzlich
freue ich mich wieder darauf, heute abend zu spielen, egal, wie chaotisch es auch
werden wird. Ich werde spielen. Ich werde für die neue Zeit spielen, und auch für
das alte Paar aus dem Park. Und ich werde für den Traum meiner Eltern und
Großeltern spielen. Ich werde das Mauerstück zeigen, den Menschen von meiner
Nacht am Brandenburger Tor erzählen. (…)
Zwei Stunden später. Ein verstohlener Blick in den Saal, der bis auf den letzten
Platz gefüllt ist. Gespannte Erwartung. Letzte Meldungen werden mir zugeraunt:
„Die Grenzer an etlichen Übergängen sollen sich ganz zurückgezogen haben …“
Ich nehme ein Schluck Weißwein gegen die Nervosität, setze meine weiße Maske
auf. Die zur Eröffnung dieses „Ohne Maske“-Tourneeprogramm gehört, denke an
das alte Paar, das irgendwo im Publikum sitzt, stecke das Mauerstück in meine
Smokinghose und fühle mich frei.“