Die neue verfassungsgebende Versammlung soll einen Ausweg aus
der Krise ermöglichen. Hier eine Analyse der Situation:
Zum Zeitpunkt des Todes von Hugo Chavez im Jahr 2013 begann auch der
langsame Niedergang des Transformationsprozesses, der als bolivarischer
Prozess bezeichnet wird. Zur gleichen Zeit fiel der zuvor boomende Ölpreis
und die Inflation erreichte zunehmend exorbitante Ausmaße.
Die Regierung Nicolas Maduros war in nachfolgenden Jahren nicht in der Lage,
passende Antworten auf kultureller, politischer und ökonomischer Ebene zu
finden. Stattdessen wurde der Staatsapparat weiter aufgeblasen und Miss-
wirtschaft und Korruption Tür und Tor geöffnet. Die Leidtragenden sind heute
vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile – größtenteils Chavistas, also An-
hänger der Regierung. Sie sind aufgrund mangelnder Alternativen von den
Versorgungsengpässen am stärksten betroffen.
Undifferenzierte Medien
Allerdings: das Bild, das von den Medien gezeichnet wird, ist einseitig. Es
besagt, dass die gesamte venezolanische Bevölkerung verzweifelt versucht,
den brutalen Diktator Maduro loszuwerden. Die Realität ist jedoch wie so oft
komplexer.
Das Autoritarismus-Pickerl wurde den venezolanischen Regierungen seit der
Wahl von Hugo Chavez angeheftet. Dass sowohl Hugo Chavez als auch Nicolas
Maduro in beanstandungslosen Wahlen an die Präsidentschaft gelangt waren,
wurde dabei ignoriert.
Autoritäre Tendenzen 
Seitdem die Opposition im Dezember 2015 die Mehrheit in der Nationalver-
sammlung gewinnen konnte, lässt die Regierung jedoch tatsächlich zuneh-
mend autoritäre Tendenzen erkennen. Im Oktober 2016 verhinderte die Regier-
ung den von der Opposition eingeleiteten Prozess zu einem Abberufungsrefer-
endum. Die Möglichkeit, den Präsidenten seines Amtes zu entheben, war eine
der wichtigen Errungenschaften der bolivarischen Verfassung von 1999.
Im März dieses Jahres entmachtete der oberste Gerichtshof die Nationalver-
sammlung. Zwar revidierte er die Entscheidung nach einer Intervention
Maduros kurz darauf in Teilen. Dass der Gerichtshof mittlerweile von der
Exekutive abhängig ist, scheint jedoch wenig strittig.
Opposition wenig demokratisch
Allerdings:  die von den westlichen Medien zu FreiheitskämpferInnen stilisierte
rechte Opposition ist fern davon, demokratischen Idealen zu entsprechen. Es
handelt sich zwar bei der von der MUD (Mesa de Unidad Democrática) reprä-
sentierten Opposition um keine einheitliche Gruppe. Den untereinander zer-
strittenen Führungsfiguren waren bisher jedoch allerlei Mittel recht, um den
bolivarischen Prozess zu beenden. Großteils aus den wohlhabendsten Fami-
lien Venezuelas stammend, sehen die alten Eliten den Moment gekommen, um
sich wieder an die staatlichen Futtertröge zu hieven.
Beide Seiten für Tote verantwortlich
Die Opposition schreckte in der Vergangenheit auch nicht vor Putschver-
suchen (wie 2002), der Finanzierung von kriminellen Straßenbanden oder dem
Aufbau paramilitärischer Gruppen zurück, um das Land ins Chaos zu stürzen.
So auch in den aktuellen gewaltsamen Protesten, bei denen etwa Regierungs-
vertreter ermordet oder öffentliche Einrichtungen zerstört und niedergebrannt
wurden.
Am grausamsten erscheinen jedoch die sich jüngst häufenden Berichte über
das Verbrennen von Chavistas bei lebendigem Leibe durch oppositionelle
Protestler.
Vor allem schwarze und arme Menschen fürchten derzeit um ihre Sicherheit,
weil sie als Chavistas gelten. Aber auch die Berichte über Übergriffe paramili-
tärisch organisierter chavistischer Gruppen nehmen zu, die ebenfalls für zahl-
reiche Todesopfer und eine Eskalation der Situation verantwortlich sind. Die
Toten der aktuellen Proteste sind ebenso wie etwa jene aus den Unruhen von
2014 schlussendlich beiden Seiten anzulasten.
Reaktivierung der eigenen Basis
Nachdem Initiativen zum Dialog und Versuche der Vermittlung in den
Vormonaten gescheitert waren, rief Maduro im Mai schließlich zur Wahl einer
neuen Verfassungsgebenden Versammlung auf. Am 30. Juli sollen die 545
RepräsentantInnen, davon 364 territoriale VertreterInnen, 173 VertreterInnen
aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren wie z.B. ArbeiterInnen oder
RentnerInnen und 8 VertreterInnen aus indigenen Gemeinden, gewählt werden.
Mit diesem Versuch, aus der aktuellen Pattsituation herauszukommen, scheint
die Regierung sich nicht nur weitere Machtbefugnisse sichern zu wollen. Sie
zielt vor allem auch auf die Reaktivierung der eigenen Basis ab. Diese ist in den
letzten Jahren bedingt durch die wirtschaftliche Situation und die Korruption in
Apathie verfallen. Trotz dieser zunehmenden Entfremdung zwischen Regierung
und Basis macht sich letztere jedoch wenige Illusionen über die Opposition
und deren Interessen.
Opposition will Wahl verhindern
Für die rechte Opposition ist die Verfassungsgebende Versammlung hingegen
der letzte Schritt hin zu einer Diktatur. Um gegen die Wahl zu protestieren, rief
sie deshalb letzte Woche zu einer Konsultation auf. Anders als hierzulande oft
kolportiert, handelte es sich dabei nicht etwa um ein Referendum. Vielmehr
lässt sich die Konsultation als symbolisches Kräftemessen zwischen Opposi-
tion und Regierung interpretieren. Die Regierung hatte zeitgleich zu einem
Testlauf für die Wahl am 30. Juli aufgerufen und ihre Leute mobilisiert.
In der Konsultation stimmten UnterstützerInnen der Opposition gegen die
Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung. Die Armee wurde
aufgefordert, entsprechend zu intervenieren und die Einsetzung einer Re-
gierung der nationalen Einheit verlangt. Laut Opposition beteiligten sich gut 7
Mio. Venezolaner.
Die Konsultation besaß allerdings keinerlei rechtliche Grundlage, noch lassen
sich Stimmen und Ablauf überprüfen: Unmittelbar nach der Auszählung
wurden die Stimmen und Listen von der Opposition verbrannt.
Linke Kritik an Maduro
Aber auch kritische Stimmen von links stehen der neuen Verfassungs-
gebenden Versammlung skeptisch gegenüber. Die Einberufung sei ohne
entsprechende Befragung der Bevölkerung erfolgt, wie es verfassungsrecht-
lich vorgesehen wäre. Ebenso bestehe die Gefahr einer weiteren Machtkonzen-
tration beim Präsidenten.
Vor allem aber sieht man die derzeitigen Kräfteverhältnisse deutlich schlechter
als 1999. Damals trug eine breite gesellschaftliche Bewegung den Prozess,
nicht eine in die Defensive geratene Regierung.  Der angestoßene gesamt-
gesellschaftliche bolivarische Prozess sei breiter als ein Regierungsprojekt,
und seine Errungenschaften gelte es zu bewahren.
Die Regierung Maduros treibt trotz alledem die Einberufung der Verfassungs-
gebenden Versammlung voran. Die Opposition hingegen hat die „Stunde Null“
ausgerufen und wird versuchen, die Wahl um jeden Preis zu verhindern. Dabei
kann sie auch auf internationale Unterstützung zählen. Die USA haben bereits
deutliche wirtschaftliche Sanktionen angedroht, sollte die venezolanische
Regierung an ihren Plänen festhalten. Diese würden die gravierenden
Engpässe an Lebensmitteln und Medikamenten zweifelsohne weiter
verschlimmern.
Regime Change durch USA? Oder Versagen der Regierung?
Auch innerhalb lateinamerikanischer AktivistInnen und Intellektueller sind
heftige Debatten über die Einschätzung der aktuellen Situation entbrannt.
Unbestritten ist, dass wichtige Teile der Opposition an einem Dialog wenig
interessiert sind. Ihr vorrangiges Ziel ist der gewaltsame Sturz Maduros. Sie
hoffen, dass so – anders als bei einer politischen Lösung des Konflikts – der
Chavismo ein für alle Mal Geschichte ist. Der Preis, den die Bevölkerung
hierfür bereits jetzt zahlt, scheint diesem Teil der Opposition egal zu sein.
Ebenso wenig lässt sich das neuentfachte Interesse an Venezuela seitens der
USA leugnen. 
Die Situation auf deren Gebaren zu reduzieren, wird der komplexen Konstel-
lation jedoch nicht gerecht. Denn auch die Regierung hat ihren Teil zu der
aktuellen Situation beigetragen. So hat sie in den vergangenen Jahren vor
allem durch wirtschaftspolitischen Dilettantismus, Korruptionsaffären und die
Demobilisierung der eigenen Basis geglänzt, die als Korrektiv zur Regierung
hätte dienen können. Zudem scheinen sich diejenigen innerhalb des Chavismo
durchgesetzt zu haben, die für eine autoritäre Lösung plädieren und um jeden
Preis die eigenen Privilegien sichern wollen.
Kein „weiter so“ möglich
Aktuell wird eine linke Position, die weder der Opposition das Wort redet, noch
die Augen vor den gravierenden Problemen in Venezuela verschließt, in dem
polarisierten Szenario aufgerieben und ist kaum noch sichtbar. Ein „weiter so“
kann es nicht geben. Wie ein geordneter Prozess der Transition aussehen
kann, der gleichzeitig wichtige Errungenschaften des bolivarischen Prozesses
verteidigt, ist unklar.
Die derzeit unter Linken ausgetauschten Polemiken und „Nettigkeiten“ tragen
wenig zum Finden möglicher Auswege bei. Zynisch scheinen jedoch jene
linken Parolen, die (endlich) die Endzeitschlacht gekommen sehen und eine
revolutionäre Demokratie herbeifantasieren.
Einen möglichen Bürgerkrieg sollte sich niemand wünschen. Dass die einfache
Bevölkerung den höchsten Preis für einen solchen zahlen würde, darüber
besteht sogar im Fall Venezuelas hoffentlich Einigkeit.
29.7.2017
Quelle: http://mosaik-blog.at/venezuela-verfassung-wahl-maduro-chavez/