Udo Jürgens schreibt dazu in seinen Memoiren („… unterm Smoking Gänsehaut“)
folgendes:
„Wenn ich mit meinen Eltern mal im Klagenfurter Stadttheater eine Oper oder
Operette besuchte, was damals natürlich nur sehr selten vorkam, zog es mich
anschließend sofort ans Klavier: Ich spielte zu Hause einen rund halbstündigen
Querschnitt durch das eben Gehörte, ohne jegliche Note der Oper oder Operette je
gesehen zu haben. Und – ich spielte das mit absoluter Sicherheit.
Mein freies Spiel und mein Talent zum Improvisieren waren so ausgeprägt, dass
von Zeit zu Zeit sogar Musikpädagogen aus Klagenfurt, Innsbruck, einmal gar aus
Wien kamen, um sich dieses „Wunderkind aus Kärnten“ anzuhören.
Ich musste einfach spielen. Wie eine Sucht. Als Kind hatte ich schon kleine
Klavierstücke komponiert, jetzt, mit vierzehn Jahren begann ich mit meinen ersten
Liedern …” (Udo Jürgens, “...unterm Smoking Gänsehaut”, 1994, Bertelsmann, S.34ff.)
Das Klavierspielen hatte er sich übrigens selbst beigebracht, ohne dass jemand in
der Familie etwas davon bemerkte. Erst am 30. September 1946, an seinem 12.
Geburtstag, spielte er zum ersten Mal vor seinen völlig überraschten Eltern.
Es war kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges (dessen Schrecken seine
gesamte Kindheit geprägt hatte). Er hatte zu seinem Geburtstag Theaterkarten
geschenkt bekommen – und dieser allererste Theaterbesuch wurde zu einem
Wendepunkt in Udo Jürgens Leben, der ihm eine völlig neue Welt – und auch
seine eigene Zukunft - offenbarte. Nur wusste er das damals noch nicht.
Udo Jürgens beschreibt diese denkwürdigen Augenblicke und diesen unvergess-
lichen, schicksalhaften Theaterabend folgendermaßen:
„Der Dirigent betritt sein Pult. Applaus ertönt. Ich bin viel zu aufgeregt, um zu
klatschen. Dann gibt er Einsatz, und all die vielen Musiker, all die Geigen und
Flöten und auch das Fagott beginnen zu spielen, und das ist für mich in diesem
Augenblick das Schönste, was ich überhaupt jemals in meinem Leben gehört habe.
Es ist Musik, die nicht aus dem Radio oder von einer Militärkapelle kommt. Es ist
ein richtiges, großes Orchester, das so voll und klar und satt und berauschend
klingt, wie ich mir das nicht einmal in meinen schönsten Träumen habe vorstellen
können. Es ist irgendwie das, was in mir schon immer angeklungen ist und das
jetzt, in diesem Moment, eine Bedeutung bekommt. Ich fühle Gänsehaut am
ganzen Körper, halte den Atem an, als könne ich sonst nicht jede winzige Nuance
richtig hören. Ich möchte, dass dieses Gefühl nie mehr in meinem Leben aufhört.
Und dann hebt sich auch noch der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Bühne
mit wunderschönen Kulissen, Menschen in herrlichen Kostümen, die das Thema
der Ouvertüre aufgreifen und zu singen beginnen. Magisches Licht auf einer
bunten Bühne – und die Darsteller leben dort. Sie leben nicht in dieser grauen,
anstrengenden, gefährlichen Welt mit all den Ruinen und den Menschen, die
andere foltern und wo es soviel Schwieriges und Düsteres und Böses gibt. Sie
leben in Licht und Musik, in der Vollkommenheit, die ich immer für unerreichbar
gehalten habe. (…) während ich da so sitze und der Musik lausche, fühle ich, dass
das, was ich da erlebe, mir in irgendeiner Weise, die ich noch nicht ganz verstehe,
eine Antwort auf etwas gibt, das ich immer in mir gespürt habe und doch nicht
erklären kann. Meine ganzen seltsamen Gefühle, mein Anderssein bekommt in
diesem Augenblick für mich plötzlich irgendwie einen Sinn – so lange nur die
Lichter nicht verlöschen und dieser Klang nicht aufhört! Und ich weiß, dass ich
alles dafür tun muss, dass das nicht geschieht.“ (...)
„Und als wir nach Hause kommen, da kann ich es kaum erwarten, mich an das
Klavier zu setzen. In den letzten Monaten habe ich in Barendorf jede Minute, die
ich allein im Haus war und in der niemand mich hören konnte, am Klavier geses-
sen. Es war schrecklich verstimmt, und die Tasten waren ausgeleiert, aber ich hatte
ja kein Akkordeon, und ganz ohne Musik zu leben, das ging für mich einfach
nicht. Wenn man etwas in Töne verwandelt, dann kann man viel besser mit seiner
Angst und seinen Gefühlen zurechtkommen, das hab ich schon gespürt, als ich als
kleines Kind zum allerersten Mal eine Mundharmonika in der Hand hatte.
Ich wußte ja schon ein bißchen, was Akkorde und Tonarten sind und wie man eine
Melodie gestaltet, und so hab ich so lange herumprobiert, bis es mir gelungen ist,
meine rechte „Akkordeonhand“ irgendwie auch auf meine linke Hand zu übertra-
gen. Ich hab schnell gemerkt, wie man die Baßtöne spielen muss, dass man am
besten weite Lagen verwendet, weil die tiefen Töne sonst zu sehr verwischen und
hab das alles für mich erforscht und erkundet und mir dabei eine ganz eigene,
irgendwie „wilde“ Technik angeeignet, bei der ich die gesamte Breite der Klavia-
tur ausnutzte. Mit dieser Technik kann ich schon nach kurzer Zeit alles, was ich
gehört habe, so nachspielen, quer durch alle Tonarten, dass es klingt, als wäre es so
geschrieben worden. Ich spiele sicher nicht so, wie „richtige“ Pianisten spielen,
und von „Fingersätzen“ und so was hab ich auch keine Ahnung, aber das brauche
ich, wie ich gemerkt habe, jetzt noch gar nicht, für mich reicht es im Augenblick,
und es macht mir unglaubliche Freude. Es sind die einzigen Momente, in denen ich
alles um mich herum vergessen kann und die Welt als einen schönen, aufregenden,
spannenden Ort empfinde.
Erzählt habe ich von meinen vielen Stunden allein am Klavier niemanden. Ich
hatte auch gar keine Ahnung, wohin mich das alles führen sollte. Es war mein
kleines Geheimnis, eine Welt, die ich nur für mich hatte und die sich heute abend
für mich geöffnet und begonnen hat, einen größeren Sinn zu ergeben.“
Auch seine Eltern erkannten an diesem denkwürdigen Abend sofort das unglaub-
liche Talent ihres Sohnes. Udo Jürgens erinnerte sich, dass er seinen Vater noch
nie so berührt gesehen hatte: „Mein Vater sieht mich nachdenklich an. „So was
gibt es doch eigentlich gar nicht. Du musst unbedingt Unterricht bekommen. Wir
sprechen morgen darüber. Du musst uns ganz in Ruhe erklären, wie du das
gemacht hast.“
Auch Joe scheint mich zum ersten Mal in meinem Leben fast ein bißchen zu
bewundern, und ich genieße das Gefühl. Und zum ersten Mal in meinem Leben
fühle ich mich für Augenblicke stark und unbesiegbar, nicht mehr wie „Jürgilein“
mit all seinen Problemen. Ein bißchen bin ich diesem Namen und seiner Schwäche
entwachsen, das spüre ich.“ (Udo Jürgens, „Der Mann mit dem Fagott“, S.440ff.)