Weltweit starren Manager fassungslos auf die Firma Semco: Was dort passiert,
widerspricht allem, an was sie glauben. Die 3000 Mitarbeiter wählen ihre
Vorgesetzten, bestimmen ihre eigenen Arbeitszeiten und Gehälter. Es gibt
keine Geschäftspläne, keine Personalabteilung, fast keine Hierarchie. Alle
Gewinne werden per Abstimmung aufgeteilt, die Gehälter und sämtliche
Geschäftsbücher sind für alle einsehbar, die Emails dafür sind strikt privat und
wie viel Geld die Mitarbeiter für Geschäftsreisen oder ihre Computer ausgeben,
ist ihnen selbst überlassen.
Respekt als Erfolgsrezept
Was für heutige Personalchefs klingen mag, wie ein anarchischer Alptraum, ist
in Wirklichkeit eine Erfolgsgeschichte. Seit das Unternehmen von Inhaber
Ricardo Semler umgestellt wurde, stiegen die Gewinne von 35 Millionen auf
220 Millionen Dollar. Und nicht nur die Zahlen geben Semler recht, sondern vor
allem die Mitarbeiter: Die Fluktuationsrate bei Semco liegt unter einem Prozent.
Das Rezept ist einfach: Behandele deine Mitarbeiter wie Erwachsene, dann
verhalten sie sich auch so. Je mehr Freiheiten du ihnen gibst, desto
produktiver, zufriedener und innovativer werden sie. Ein Unternehmen besteht
aus erwachsenen gleichberechtigten Menschen, nicht aus Arbeitskräften.
Jeder hat das Recht, sich frei zu entfalten und eine gesunde Balance zwischen
Beruf und Privatleben zu finden. Entgegen allem, was man aktuell zu glauben
scheint, machen Druck und Stress Menschen nicht produktiv, sondern ganz
einfach nur kaputt. Und dabei verliert das Unternehmen letztlich genauso wie
der Mensch.
Es geht Semler um ein neues Verständnis von Arbeit: Eine Firma ist ein
Gemeinschaftsprojekt, im besten Fall eine geteilte Leidenschaft. Die
Gesellschaft hat uns das allerdings anders beigebracht, wir sollen uns als
Steinmetze, Maler und Hilfsarbeiter sehen, nicht als Kathedralen-Schöpfer. Bei
Semco sind die Mitarbeiter essenzieller Teil eines Ganzen, sie sind Mit-
Schöpfer, nicht bloß ein Rädchen im System. Sie haben Ideen, sie verstehen
ihre Arbeit, sie wissen, was sie wert ist.
Vertrauen statt Kontrolle
Aber unsere Personalchefs glauben noch immer, dass man Angestellte
kontrollieren muss, über Stechuhren, feste Arbeitszeiten, Produktivitäts-
Reports und Email-Spionage. Semco hat das alles aufgegeben und die
Kontrolle durch Vertrauen ersetzt - und mal im Ernst: Wer will eigentlich mit
Leuten zusammenarbeiten, denen man nicht trauen kann?
Für Semler ist der Kontrollwahn der meisten Unternehmen einfach nur noch
verrückt. Seine Mitarbeiter erziehen ihre Kinder und wählen Gouverneure, es
sind erwachsene Menschen, die selbst am besten wissen, was sie möchten
und brauchen.
"Es ist völlig verrückt, diese Idee, dass die Menschen immer noch so fixiert
darauf sind, wie etwas gemacht wird. Bei uns sagt keiner: 'Du bist fünf Minuten
zu spät' oder 'warum geht dieser Fabrikarbeiter schon wieder aufs Klo?' [...]
Wenn Du dich bei Semco im Büro umsiehst, sind da immer jede Menge leere
Plätze. Die Frage ist: Wo sind diese Leute? Ich hab nicht die leiseste Idee und
es interessiert mich auch nicht.
Es interessiert mich in dem Sinne nicht, dass ich nicht sicherstellen möchte,
dass meine Mitarbeiter zur Arbeit kommen und der Firma eine bestimmte
Anzahl Stunden pro Tag geben. Wer braucht eine bestimmte Anzahl Stunden
pro Tag? Wir brauchen Leute, die ein bestimmtes Ergebnis abliefern. Mit vier
Stunden, acht Stunden oder zwölf Stunden im Büro - sonntags kommen und
Montags zu Hause bleiben. Es ist irrelevant für mich", erklärt Semler seltsam
einleuchtend.
Keine Hierachie, dafür Teams
Semco ist etwas, dass es laut dem Menschenbild heutiger Manager eigentlich
gar nicht geben dürfte. Und wenn doch, dann dürfte es nicht funktionieren. Tut
es aber. Drei Fragen hört Semler immer wieder: Macht ihr das wirklich so?
Funktioniert es ganz im Ernst? Und: Was jetzt?
Die ersten zwei sind einfach zu beantworten: "Wir machen das jetzt seit 25
Jahren, so ziemlicher jeder, den es wirklich interessiert, ist hergekommen, um
zu sehen, ob es wahr ist. Und unsere Zahlen sind über jeden Zweifel erhaben",
sagt Semler selbstbewusst.
Für ihn ist war das Aufbrechen der Unternehmensstruktur von Anfang an keine
Traumtänzerei, sondern vielmehr die einzig mögliche Antwort auf unsere
unmenschliche Arbeitswelt. Er hat es auf die harte Tour gelernt, wachte selbst
erst auf, als er kollabierte und mit Komplett-Burnout in ein Krankenhaus
eingeliefert wurde. Das war der Punkt, an dem er beschloss, seine geistige und
körperliche Gesundheit nie mehr dem Job unterzuordnen - und das auch von
seinen Angestellten nicht zu verlangen. Dass der Wahnsinn ein Ende haben
muss.
"Wenn man es sich genauer ansieht, muss man feststellen, dass das
traditionelle System nicht funktioniert. Und das ist der Anreiz, sich nach etwas
anderem umzusehen" - so einfach sieht Semler das.
Doch es fehlt vielen Unternehmern noch immer schwer, die Kontrolle
loszulassen. Denn heutige Firmen sind nicht aufgebaut wie Orte des
Schöpfens, sondern wie das Militär: mit einer hierarchischen Machtstruktur,
mit Befehlsgebern und -empfängern. Semco hingegen ist in konzentrischen
und durchlässigen Kreisen aufgebaut, es gibt keine Arbeitstitel, keine festen
Büros. Niemand muss zur Arbeit kommen, ob von zu Hause, aus dem
Dschungel oder einem Cafe an der Strandpromenade gearbeitet wird, ist den
einzelnen Mitarbeitern und Teams selbst überlassen.
Diese Teams sind das Herzstück von Semco. Die Menschen arbeiten in
Gruppen, die jeweils ein Produkt oder ein Zwischenprodukt selbstständig
fertigstellen. Wie sie das machen, in welcher Zeit und mit welchem Geld, das
ist ihre Sache. Wer zwischendurch schlafen will, geht einfach in den
Firmengarten und legt sich für ein paar Stunden in die Hängematte - wer müde
ist, macht ja eh nur Fehler.
Die Firma ohne Personalabteilung
Semco hat 3000 Mitarbeiter, aber keine Personalabteilung, da steht dem
traditionellen Unternehmer der Angstschweiß auf der Stirn. Wer stellt diese
Leute ein? Wer überprüft die Leistung?
Das machen die Angestellten alles selbst. Stellt ein Team fest, dass eine neue
Person gebraucht wird, schreibt sie im Intranet der Firma ein entsprechendes
Meeting aus. Das ist natürlich freiwillig: Alle können kommen, keiner muss.
"Wir wollen nicht, dass irgendwer in etwas verwickelt wird, was ihn nicht
interessiert, deshalb sind alle Meetings freiwillig. Das heißt die Meetings
werden bekanntgegeben und wer interessiert ist, kann und wird vorbeikommen
und soll in dem Moment den Raum wieder verlassen, wenn es anfängt, ihn zu
langweilen", erklärt Semler die Meeting-Philosophie.
Leute, die mitten in einem Meeting gehen, weil es sie langweilt - das würde so
manchen Vorgesetzten in den Wahnsinn treiben. Aber bei Semco sollen eben
nur die Menschen eine Entscheidung treffen und tragen, die es unmittelbar
angeht und interessiert.
Auf so einem Meeting könnte zum Beispiel beschlossen werden, dass neuer
Mitarbeiter gebraucht wird und was er oder sie können muss. Dann wird
gemeinschaftlich eine Annonce geschrieben, und sobald die Bewerbungen
kommen, werden sie im Team aufgeteilt: Jeder, der möchte, nimmt einfach ein
paar mit nach Hause und bringt die interessantesten dann wieder mit. Statt
Vorstellungsgesprächen gibt es ein Gruppengespräch mit allen Kandidaten
gleichzeitig - auch hier darf kommen, wer will.
Die einzigen Mitarbeiter, die regelmäßig formal bewertet werden, sind jene in
Entscheidungs-Positionen - und zwar von allen anderen. Sollte einer dieser
Manager wiederholt schlechte Bewertungen kriegen, geht er für gewöhnlich
von selbst.
Tatsächlich regeln die Teams fast alles unter sich. Macht jemand keinen guten
Job, so wird das im Team diskutiert, oder ein Meeting einberufen. Wer sich ein
hohes Gehalt zuteilt, erhöht damit auch die Erwartungen des Teams und den
Leistungsdruck. Aber auch die Mitarbeiter haben mittlerweile ein anderes
Verhältnis zur Arbeit: Wenn jemand einen Haufen Geld verdient, die ganze
Woche eigentlich nur Golf spielt, aber trotzdem einen guten Job macht und
seine Aufgaben erledigt - wen kümmert's dann? Was zählt, ist das Ergebnis.
Eine Studie von CNN hat festgestellt, dass die Mitarbeiter bei Semco eine sehr
viel gesündere Balance zwischen Privatleben und Beruf haben, sich mehr Zeit
für Beziehungen, Kinder und Hobbys nehmen, aber gleichzeitig auch
ungewöhnlich hohen Einsatz und bemerkenswerte Leistungen im Beruf zeigen.
Nicht trotz, sondern wegen der Freiheiten. Für Semler ist das wenig
verwunderlich: Menschen müssen sich entfalten können, um ihr Potenzial
optimal einzubringen.
Semler ist sich sicher: Sein Konzept funktioniert überall. Er selbst hat es in
Fabriken ebenso eingesetzt, wie in IT-Büros. Tatsächlich ist es eigentlich
andersherum - es funktioniert überhaupt nur so. Unsere derzeitige Arbeitswelt
mit ihren Burn-Out-Syndromen, mit Mobbing, Stress, Magengeschwüren und
Depressionen funktioniert nämlich eben nicht, sie ist fortgesetzter Wahnsinn.
Es wird Zeit, dass wir eine Gesellschaft erschaffen, in der Beruf wieder mit
Berufung und Leidenschaft assoziiert wird, nicht mit Sklaverei und
Ausbeutung. In der Menschen wieder freie Entscheidungen treffen können und
mit Respekt behandelt werden. In der Privatleben und Arbeit gleichwertig sind
– auch für die Vorgesetzten. Es wird Zeit für das 7-Tage-Wochenende!
Von Ricardo Semmler sind mehrere Bücher erschienen darunter: "The Seven-Day
Weekend: A Better Way to Work in the 21st Century" und "Das Semco System:
Management ohne Manager".
http://www.sein.de/gesellschaft/neue-wirtschaft/2010/die-befreiung-der-arbeit-das-7-tage-