Ahmad Ajram lebte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in Aleppo, wo er
ein Stoff-Geschäft besaß, bevor er fliehen musste.
Karim El-Gawhary schildert die Gründe der Flucht des syrischen Geschäfts-
mannes folgendermaßen: „Er hat Dinge erlebt, die man sich im friedlichen
Europa kaum vorstellen kann. Zunächst wurde sein Laden für Anzugsstoffe
zerstört. Dann hatten syrische Rebellen die Straße erobert, in der er mit seiner
Frau und seinen fünf Kindern lebte. Daraufhin wurde die Straße von
Regimetruppen bombardiert. Sein Nachbar und dessen Kinder kamen dabei
um. Ahmad war daraufhin mit seiner Familie und seinen Kindern Richtung
türkische Grenze geflohen. Unterwegs sahen sie, wie von Helikoptern aus
Fassbomben abgeworfen wurden. „Wir haben auf den Tod gewartet, aber er
kam nicht“, erzählte er aufgewühlt.“ (S.181)
Die Familie schaffte es schließlich bis Istanbul. Dort beschlossen sie – wie
viele andere Syrer - , dass Ahmad zunächst alleine versuchen sollte, nach
Europa zu kommen, um seine Familie dann so schnell wie möglich nach-
zuholen. Denn das Geld für die Schlepper reichte nur für eine Person.
Seine Flucht verlief wie tausende anderer. Zuerst erreichte er mit einem
Schlauchboot Griechenland. Dabei wäre er fast ertrunken.
Danach wurde er in einem LKW, wo er in einem kleinen Kasten zusammen mit
drei anderen Flüchtlingen eingepfercht 44 Stunden ausharren musste, bis
nach Österreich transportiert. Die Flucht hat insgesamt 10.000 Dollar gekostet.
Nun wartet er bereits ein halbes Jahr auf einen Anhörungstermin in Linz – doch
bis jetzt hat er keinen bekommen. Und das, obwohl sich seine Frau und seine
Kinder in höchster Lebensgefahr befinden. Denn kurz nachdem Ahmed sie
verlassen hatten, wurden diese vom Vermieter in Istanbul aus der Wohnung
(für die sie sechs Monate im Voraus bezahlt hatten!!) geworfen. Seine Frau und
seine Kinder kehrten daraufhin mittellos nach Aleppo zurück.
Seitdem hat Ahmad eine Horrormeldung nach der anderen erreicht, wie er
Karim El-Gawhary bei dem Gespräch in Großraming schilderte: „Als seine
Familie zurückkehrte, war seine zweijährige Tochter Sima in Syrien auf dem
Weg von der Grenze nach Aleppo von einem Scharfschützen angeschossen
worden. Auf seinem Handy zeigte mir Ahmad das Foto von den Schussverletz-
ungen der Kleinen und ein anderes, früheres. Mit einer Stoffblume im Haar
lächelt die Kleine mit ihren strahlend blauen Augen in die Kamera. Sima wurde
notoperiert und überlebte.
Eine Woche vor unserem Treffen hatte er dann die Nachricht erhalten, dass auf
das Haus seiner Tante und ihrer Kinder eine Fassbombe geworfen worden war.
Ihre beiden Kinder kamen ums Leben, seiner Tante musste ein Bein amputiert
werden. Als er das alles erzählte, zitterte er am ganzen Körper und weinte. Er
entschuldigte sich dafür, dass er als 40-jähriger Mann offen in Tränen aus-
brach. Er schäme sich dafür. „Ich habe Raketen gesehen, die neben mir einge-
schlagen sind. Ich habe gesehen, wie Menschen in die Luft fliegen und zer-
rissen werden“, rechtfertigte er seinen Zusammenbruch. Besonders nachts
schössen all diese Erlebnisse durch seinen Kopf, sagte er. (…) Am schlim-
msten, sagte er, seien das Warten und die Angst, dass seiner Familie in Syrien
noch mehr zustoßen könnte. „Was hast du davon, in Europa zu sein, wenn du
erfährst, dass dein Kind angeschossen und andere Verwandte von Fassbom-
ben in Stücke gerissen wurden“, fragte er, und wieder begann seine Stimme zu
zittern, und wieder liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Oft habe er an Selbst-
mord gedacht, sagte er, während er wie ein Häuflein Elend dasaß, in einer
dieser langen Nächte im Flüchtlingsheim in Großgraming. Aber er wusste
auch, dass sein Asylantrag die einzige Hoffnung für seine Familie war, in
Sicherheit zu kommen.“ (S.182 ff)
Auch Ahmads Zimmergenosse Firas Al-Aysh stammt aus Syrien. Aufgrund
seiner Ausbildung – er ist hochspezialisierter Saatgut-Forscher – sollte ihm in
Europa eigentlich “der rote Teppich ausgerollt werden“, wie Karim El-Gawhary
schreibt. Firas zeigte ihm sein Doktor-Diplom der Agrarwissenschaft mit
Auszeichnung, seine Ernennung zum Chef eines Forschungszentrums für
Saatgut in Syrien und seinen Einberufungsbescheid. Aber: Firas „wird hier
nicht als Bereicherung, sondern als potenzielle Bedrohung angesehen. Er darf
nicht arbeiten und bekommt 160 Euro im Monat, um sich selbst zu versorgen,
während er in dem Flüchtlingsheim lebt. Auch er war seit fünf Monaten noch
nicht einmal von den Asylbehörden in Linz angehört worden.“ Dabei sollte der
syrische Einberufungsbefehl ausreichen, ihn als Flüchtling anzuerkennen.
Denn Firas war geflüchtet, weil er nicht Teil des blutigen Bürgerkrieges werden
wollte, der in seinem Heimatland tobte. Karim El-Gawhary beschreibt seine
Flucht folgendermaßen: „Er packte in seiner Heimatstadt, dem südsyrischen
Deraa, das Nötigste und floh mit Hilfe von beduinischen Schleppern durch die
Wüste ausgerechnet in die Hochburg des lslamischen Staates (IS), ins syrische
Raqqa. Das war die einzige Fluchtroute Richtung Norden, die nicht durch
Regime-Territorium führte, wo ihm drohte, als Fahnenflüchtiger verhaftet zu
werden. In Raqqa war er eine Woche lang in der Gefangenschaft der IS-
Dschihadisten, weil sie dachten, er sei ein Spion des Regimes, bevor sie ihn
dann doch laufen ließen. Nach unzähligen fehlgeschlagenen Versuchen, von
der Türkei nach Griechenland zu kommen, schaffte er es schließlich. Seine
Flucht bis nach Österreich dauerte drei Monate und kostete 12.000 Euro.“
(S.184)
Er ist übrigens zusammen mit Ahmad im gleichen LKW nach Österreich
gekommen. Karim El-Gawhary: „Das schweißt zusammen. Auch er ist von
seiner Familie getrennt. Diese lebt im Süden Syriens, an einem Ort, der
zwischen Rebellen und Regime schwer umkämpft ist. Firas ist ein anderer Typ
als Ahmad, aus dem sein ganzes Leid herausgesprudelt war. Firas frisst das
alles in sich hinein und ist damit beschäftigt aufzupassen, dass sich sein
Freund und Zimmernachbar Ahmad nichts antut.“ (S.183)