Es war ein schwarzer Freitag für Brasiliens Machtinhaber: Gewerk-
schaften, Oppositionsparteien und soziale Bewegungen machten ihr
Versprechen wahr, das Land für 24 Stunden stillstehen zu lassen.
Der erste nach 21 Jahren wurde der wahrscheinlich größte Generalstreik in der
brasilianischen Geschichte. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich 35
bis 40 Millionen Menschen an diesem Akt kollektiver Empörung gegen neoli-
berale Reformen, mit denen die Rechtsregierung von Präsident Michel Temer
das Arbeitsrecht schleifen und die Renten kürzen will.
Der öffentliche Nahverkehr in den großen Städten war weitgehend paralysiert,
öffentliche und private Schulen blieben ebenso geschlossen wie Banken und
Behörden. Krankenhäuser beschränkten sich auf eine Notversorgung von
Patienten. Auch in vielen industriellen Sektoren wurde die Arbeit niedergelegt.
Eine große Beteiligung am Streik zeigten die Beschäftigten des Ölsektors und
die Metaller der Automobilindustrie im Großraum von São Paulo, wo kein
Fahrzeug mehr vom Band lief.
Ihrer Arbeit fern blieben am Streiktag auch die meisten Abgeordneten und
Senatoren des Nationalkongresses in Brasília. Bereits am Donnerstag hatten
diese sich in ein langes Wochenende verabschiedet und das Weite gesucht,
bevor die großen Flughäfen ihren Dienst einstellen oder von Demonstranten
blockiert würden. Anders als den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes wird
ihnen dafür allerdings nicht das Gehalt gekürzt.
Sonst belebte Straßen im Zentrum der Metropole São Paulo blieben am Freitag
fast menschenleer. Wegen des Streiks verkehrten kaum Metros und Züge, die
Busse waren in den Depots geblieben. Immerhin 70.000 Teilnehmer fanden
sich hier dennoch zur Kundgebung gegen die Temer-Regierung auf dem Largo
da Batata ein.
Ähnlich verkehrsberuhigt waren auch Belo Horizonte, Curitiba, Porto Alegre
und die anderen Hauptstädte der Bundesstaaten. Der Streik und die damit im
Zusammenhang stehenden Demonstrationen prägten erwartungsgemäß auch
in den linken Hochburgen im Nordosten Brasiliens, wie Recife und Fortaleza,
das Bild.
Hier, wie an vielen Orten landesweit, blockierten Aktivisten der Landlosen-
oder aus den Bewegungen der städtischen Peripherien wichtige Straßen. Am
Freitagabend kam es in Rio de Janeiro und São Paulo zu Auseinandersetz-
ungen zwischen Demonstranten und der Polizei, welche Tränengas und
Gummigeschosse einsetzte.
Von den Globo-Konzernmedien, die sich bei den Protesten der weißen Mittel-
und Oberschichten gegen die Regierung von Dilma Rousseff von der Arbeiter-
partei (PT) als Aufrufer betätigt und mit Liveberichten überschlagen hatten,
wurde das Ereignis nur am Rande erwähnt. In den Fokus gerückt wurden Akte
des Vandalismus kleiner Gruppen.
Die durch einen parlamentarischen Putsch, der auf dem Weg einer Amtsenthe-
bung ohne sachlichen Grund den Ausgang der Präsidentschaftswahl von 2014
revidierte, vor einem Jahr ans Ruder gelangte Regierung spielt den General-
streik ebenfalls herunter. Dieser sei ein »Reinfall« gewesen und habe sich auf
das Verkehrswesen konzentriert. Dessen Lähmung hätte den »Eindruck einer
stärkeren Bewegung, als sie wirklich ist« erzeugt, hieß es.
Temer erklärte, »die Arbeit für die Modernisierung der Verfassung« werde »mit
einer breiten und offenen Debatte« fortgesetzt. Der dafür angemessene Rah-
men sei der Nationalkongress.
Zum Streik aufgerufen hatten die neun größten Gewerkschaftsverbände Brasi-
lien. Vorausgegangen waren Monate der Vorbereitung und Befragungen der
Basis. Von der massenhaften Beteiligung sehen sie sich in ihren Erwartungen
übertroffen und ihre Position gegenüber Parlament und Regierung gestärkt.
»Sie fürchten sich.« Deshalb wolle die Regierung die Bedeutung des Streiks
herunterspielen, schätzte UGT-Präsident Ricardo Patah ein. Vagner Freitas, der
dem klassenkämpferischen und größten Dachverband CUT vorsteht, sieht in
ihm einen Beweis dafür, dass Temers Reformpläne keinerlei Rückhalt in der
Bevölkerung hätten, »und das wir sehr wohl in der Lage sind, zu verhindern,
dass sie verwirklicht werden.«
Die vorgesehenen Reformen würden unter anderem kollektive Tarifverträge
entwerten und die Gewerkschaften schwächen, Leiharbeit und Outsourcing
massiv ausweiten und die tägliche Arbeitszeit bis auf zwölf Stunden
verlängern. Das entsprechende Gesetzespaket wurde am 26. April vom
Unterhaus verabschiedet und muss nun noch den Senat passieren. Das
Renteneintrittsalter soll im Rahmen eines Umbaus des Sozialversicherungs-
systems steigen, erst ab 49 Jahren Beitragszahlung gäbe es künftig Alters-
bezüge in voller Höhe. Für viele wäre ein Lebensabend in Armut vorpro-
grammiert.
Die Zustimmungswerte in der Bevölkerung für den Präsidenten und seine
Politik tendieren gegen Null. Das Parlament wird von Lobbys der ökonomisch
Mächtigen beherrscht und versinkt wie Temer selbst und sein Kabinett in
einem Korruptionssumpf.
Sich selbst genehmigen die Abgeordneten und Senatoren weltweit fast
einmalige Privilegien. Sie trifft die schwere Wirtschaftskrise nicht, die das
exportabhängige Brasilien durchlebt.
Die von der Temer-Regierung ausgerufene Trendwende zeigt sich nicht. Die
offizielle Arbeitslosenrate ist auf den Rekordstand von 13,7 Prozent geklettert,
mehr als 14 Millionen Menschen sind demnach betroffen. Ein großer Teil der
Arbeitenden ist zudem zu prekären Bedingungen oder informell beschäftigt
und steht ohne sozialen Schutz da.
Der Rekordstreik hat ein klares Signal ausgesendet, dass der soziale
Widerstand längst nicht gebrochen ist. Brasília steht nun erst recht unter
Druck.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/310286.brasilien-schreibt-geschichte.html