Zum Zeitpunkt dieser Begegnung befand sich Hamed Abdel-Samad gerade in der
Pupertät und kämpfte mit seinen jungen und noch ungezügelten sexuellen Ener-
gien. Und er hatte die Freuden des Onanierens entdeckt. Doch dann klärte ihn sein
Religionslehrer über die Gefahren der Masturbation auf. Er sagte, „die gesundheit-
lichen Folgen davon seien Peniskrebs, Impotenz und eine neuerdings in Amerika
aufgetretene, unheilbare Krankheit namens AIDS. Und als wäre all das nicht schon
schlimm genug, erzählte er uns, dass der Prophet gesagt haben soll: „Wer sich
selbst mit der Hand zwei Mal befriedigt, ist einem Mann gleich, der seine Mutter
begattet hat. Und wer mit seiner Mutter schläft, wird nie das Paradies erblicken.“  In
einer weiteren Überlieferung des Propheten steht geschrieben: „Wer sich mit der
Hand befriedigt, wird am jüngsten Tag mit einer schwangeren Hand vor Gott
stehen.“
Hamed Abdel-Samad schreibt weiter: „Obwohl ich diese religiöse Angstmacherei
instinktiv ablehnte, war ich nicht imstande, sie zu ignorieren. Ich hatte häufig Alp-
träume, in denen ich entweder vor meiner Mutter weglief oder meine schwangere
Hand hinter dem Rücken versteckte.“
Doch es half alles nichts: „Keine Gebete, kein Sport konnten diese sexuelle Energie
in mir bändigen …“
In dieser verzweifelten Situation hörte Hamed Abdel-Samad von einem Einsiedler in
der Wüste am anderen Ufer des Nils, der mittels schwarzer Magie junge Bräutigame
in der Hochzeitsnacht impotent mache. So glaubten es zumindest die Menschen im
Dorf.
Hamed Abdel-Samad schreibt in seiner Autobiographie weiter:
„Häufig kam ein junger Bräutigam nachts zu meinem Vater und sagte weinend, dass
er „gebunden“ sei und um einige Rituale bitte, um die Magie wirkungslos zu
machen. Gewöhnlich gab mein Vater dem angeschlagenen Helden ein Amulett mit
Koranzitaten und Bittgebeten. Ich habe mir ernsthaft überlegt, zu diesem Magier zu
gehen und ihn zu bitten, meine sexuelle Energie bis zum Tag meiner Heirat, oder
zumindest bis ich mit dem Abitur fertig war, zu blockieren.
Dieser Mann war allen ein Rätsel, und ich interessierte mich für jeden, der als
Außenseiter galt. Was muss so einem Menschen widerfahren sein, dass er so viel
Hass auf die Menschen entwickelt hat? Man wusste über ihn nur, dass er vor vierzig
Jahren aus Südägypten vor der Blutrache geflohen war und alle paar Jahre den Ort
wechselte. Er hatte sich erst vor vier Jahren an der anderen Dorfseite
niedergelassen.
Ohne groß zu überlegen, machte ich mich auf den Weg zu ihm und fragte, ob er
mich für eine Weile von meiner Sexualität befreien könne. Zu meiner Überraschung
sagte er, dass er so etwas nicht mache. Die Leute würden das nur denken, weil er
allein in der Wüste meditiere. In Wirklichkeit stünden die jungen Männer unter
massivem psychischen Druck und verfügten über keine sexuellen Erfahrungen,
weshalb sie dann in der Hochzeitsnacht versagten. Auch seien ihre Bräute viel zu
jung und hätten Angst. Ich erinnerte mich an die vielen gruseligen Szenen bei den
Hochzeiten im Dorf. Jeden Mann muss eigentlich sein Geschlechtsapparat im Stich
lassen, wenn Massen von Menschen draußen auf das Blut der Jungfräulichkeit
warten.
„Warum gibt mein Vater ihnen dann Amulette?“
„Weil dein Vater ein kluger Mensch ist. Worte allein helfen den Leuten manchmal
nicht. Menschen brauchen etwas Fassbares, um beruhigt zu werden.“
„Die Leute im Dorf halten Sie für einen Magier.“
„Menschen an so einem Ort mangelt es an Unterhaltung, deshalb neigen sie dazu,
alles, was sie nicht kennen, zu mystifizieren. Vielleicht schweige ich einfach mehr,
als es den Leuten lieb ist.“
„Glauben Sie, dass alles, was im Koran steht, wahr ist?“, fragte ich ihn, wohl
wissend, dass er kein Religionsgelehrter war.
„Alles in der Welt ist nur eine Illusion. Nur was wir fühlen und was uns anspricht, ist
wahr. Manche Sufis verneinen Gott, um seine wahre Identität zu finden.“
„Mein Vater sagte zu mir: Die Suche nach Gott ist eine Tugend, aber die Erforschung
der Identität Gottes ist Gotteslästerung. Was halten Sie davon?“
„Das ist auch wahr, für deinen Vater jedenfalls. Das Schöne an der Wahrheit ist,
dass niemand ein Monopol auf sie hat. Jeder hat seine Wahrheit, und das ist gut
so.“
„Sind Sie also ein Sufi? Die Leute nennen Sie Derwisch.“
Er nickte. „Aber ich tanze allein.“
„Beten Sie auch?“
„Ein Herz, das nicht betet, ist ein totes Herz.“
„Ich bete viel und spreche oft zu Gott, aber ich bekomme keine Antwort. Manchmal
denke ich, es gibt ihn überhaupt nicht“, sagte ich und blickte ihn ratlos an. Es war
das erste Mal, dass ich meine Zweifel jemanden derart offenbarte.
„Ich habe dir bereits gesagt: Alles ist eine Illusion. Nur was wir selbst zum Leben
bringen, ist lebendig. Nur was wir sind, ist wahr. Du bist noch zu jung, um auf-
zugeben. Ein Sufidichter sagte einst: Siebzig Jahre lang klopfte ich an die Tür des
Garten Gottes, aber mir wurde nie geöffnet. Nach siebzig Jahren verließen mich die
Kräfte, und ich konnte die Arme nicht mehr heben, um anzuklopfen. Ich drehte mich
um und wollte mich ausruhen, und da sah ich, zu meinem Erstaunen, den Garten vor
mir. Ich hatte siebzig Jahre  von innen an die Tür geklopft. – Zweifel ist immer
besser als Gleichgültigkeit. Du bist noch viel zu jung, um aufzugeben.“
„Mir gefiel der Gedanke, dass Zweifel eine Tugend sei, aber die Worte des Derwisch
beunruhigten mich. Ich wollte nicht siebzig Jahre meine Zweifel mit mir herum-
schleppen.
„Wovon leben Sie?“
„Es gibt viele Menschen, die ein gutes Herz haben, sie geben mir etwas. Und es gibt
Menschen, die Angst vor mir haben, dass ich ihre Kinder impotent mache, und auch
sie geben mir etwas. Geben zu können ist eine große Tugend, aber nehmen zu
können ist eine noch größere!“
Plötzlich erinnerte ich mich, dass mein Vater die Sufis als Parasiten beschrieben
hatte, die davon leben, dass andere arbeiten, während sie nur tanzen. Aber die
Worte dieses Mannes waren wertvoller als jede Predigt, die ich je vom Vater gehört
hatte.
Ich hätte dem alten Mann noch stundenlang zuhören können, aber er schien von
meiner Neugier ermüdet zu sein. Besonders als ich ihn fragte, ob es wahr sei, dass
er aus Angst vor der Blutrache auf der Flucht ist.
„Ja, das ist wahr. Die Leute nennen es unehrenhaft, dass ich aus meinem Dorf
geflohen bin. Ich sollte mit einem Todestuch zu den Leuten gehen, die mich
umbringen wollten, und sie um Gnade bitten. Aber wenn ich das getan hätte, dann
wäre ich in den Augen meiner Familie ein Verräter gewesen und hätte ebenfalls mit
dem Tod rechnen müssen. Beide Seiten nennen mich nun feige und sind vermutlich
immer noch hinter mir her , aber ich sage dir: keine Ehre ist es wert, dafür zu
sterben.“
„Darf ich Sie wieder besuchen?“
„Schau, dass du allein zurechtkommst. Aber wenn du mir Kräuter oder Heilmittel
abkaufen willst, kannst du gern kommen.“
Ich habe nie wieder so viel Weisheit in einer Person gefunden, und trotzdem waren
meine Probleme noch nicht gelöst.
Mit tausend Gedanken im Kopf ging ich heim. Warum kann ich nicht einfach wie
unser Nachbar sein: sorg- und gedankenlos? Welche kosmische Konstellation ist
dafür verantwortlich, dass manche Menschen von Natur aus gesund, glücklich und
optimistisch sind, und andere zu Depressionen und Selbstzerfleischung neigen?
Was veranlasst manche Menschen, über ihr Leben nachzudenken, während andere
einfach leben? Warum berührt Gott bestimmte Menschen und andere nicht?”
 Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.141 ff.