Ich lernte weitere Passagen des Korans auswendig, mein Vater war mit
meinen Fortschritten zufrieden. Ich genoss es, den Koran zu rezitieren, aber
das Gebet in der Moschee erfüllte mich noch immer nicht. Es war für mich
nicht mehr als ein soziales Ritual.
Viel stärker war ich am Tanz der Derwische interessiert. Jeden Donnerstag-
nachmittag veranstalteten die Sufis in der Moschee meines Vaters eine Tanz-
stunde. Sie drehten sich im Kreise und priesen Gott. Sie sangen „fanaa, baqaa,
tawakkul“ – Vergänglichkeit, Ewigkeit, Vertrauen.
Vertrauen war für sie die Brücke zwischen dem Nichts und der Ewigkeit. Ich
durfte mit den Sufis tanzen, obwohl mein Vater sie für nicht genuin islamisch
hielt. Er war aber immer freundlich zu ihnen und spendierte ihnen sogar ab und
zu ein Mittagessen. Er war der Meinung, jede soll zu Gott beten, wie er will,
denn nur Gott alleine darf den Glauben der Menschen beurteilen. Es gefiel mir,
mit ihnen im Kreis zu stehen und zu rufen: „Allah hayy“, Allah lebt!
Sie sagten, dass der Mensch ein ewig nach Gott Suchender sei. Der Atem
Gottes sei unsere Seele,  und wir seien sein Ruhm. Mit meinen elf Jahren war
ich nicht in der Lage, zu begreifen, was das wirklich bedeutete, aber mich
faszinierte die Idee, dass der Mensch ewig auf der Suche nach Gott ist. Denn
genau so habe ich es immer empfunden.
Ich verbrachte mehr und mehr Zeit mit ihnen und besuchte ihre privaten
Tanzveranstaltungen, die sie „dhikr“ nannten, was so viel wie Erinnerung
bedeutet. Für sie ist das gesamte Wissen der Welt im Inneren des Menschen
vorhanden: Man lerne nicht etwas Neues, sondern erinnere sich nur daran,
wenn man an Gott denke. Die Wahrheit liege im Herzen des Menschen, und
nirgendwo sonst. Gott habe von Beginn der Zeit an mit allen Menschen einen
Pakt geschlossen: Er verlieh einen Teil seiner Macht an die Menschen, und
deshalb trügen sie die Verantwortung für ihr Leben. Gleichzeitig aber sei alles
vom Schicksal und vom Willen Gottes abhängig. Gott entscheide,  was mit dem
Menschen geschehe, und der Mensch entscheide, wie er darauf reagiere.
Es war eine andere Welt als die des sunnitischen Islam, wo die Beziehung
zwischen Mensch und Gott vertikal ist. Mir gefiel, dass die Sufis nicht die
formalen Regeln und Rituale des Islam betonen. Sie sprachen nie über die
Qualen der Hölle, sondern über das Feuer der Liebe. Keiner  von ihnen hatte
den Koran auswendig gelernt oder Islamwissenschaft studiert, trotzdem
argumentierten sie scharfsinnig und überzeugend.“
 Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.111