Kommentar von Winfried Stanzick am 3. August 2012
Manfred Spitzer, einer der profiliertesten Hirnforscher der Gegenwart, bleibt seinem
Thema treu. Schon vor vielen Jahren hat er in "Vorsicht Bildschirm!" vor den
verheerenden Folgen des frühen und missbräuchlichen Konsums elektronischer
Medien auf die Gehirnentwicklung von Kindern hingewiesen. In unzähligen Artikeln
und Vorträgen hat er seitdem, mit immer neuen Forschungserkenntnissen belegt,
seine Warnung vor allem vor Computerspielen und der schnellen, für das Gehirn
schädlichen Bildfolge vieler Fernsehserien für Kinder wiederholt.
Nun legt unter dem Titel "Digitale Demenz" eine vertiefte Darstellung seiner Thesen
vor. Ausführlich zeigt er auf, "wie wir uns und unsere Kindern um den Verstand
bringen", indem wir immer mehr und immer öfter elektronische Medien nutzen, oft
mehrere gleichzeitig. Nicht nur das Gehirn verkümmert, wie er aufzeigt, sondern auch
die Sprache.
Wenn Kinder mit diesen Medien insgesamt mehr Zeit verbringen als in der Schule,
muss man sich nicht wundern, dass dort immer mehr über Sprach- und Lern-
störungen, über Aufmerksamkeitsdefizite, Stress und zunehmenden Gewalt-
bereitschaft geklagt wird.
Der Philosoph Christoph Türcke hat unlängst in seinem Buch "Hyperaktiv!" (C.H. Beck
2012) darauf hingewiesen, dass die Menschen unter einer konzentrierten Zerstreuung
leiden, die er als Kulturstörung bezeichnet. Die Menschen sind ständig zwanghaft
damit beschäftigt, sich zu zerstreuen, was nicht zur Entspannung führt, sondern zum
Stress.
Dies hat Folgen für die Art und Weise, wie diese Menschen mit ihren neugeborenen
Kindern kommunizieren. ADS und ADHS sind für ihn Folgen dieser Störung. In einem
Interview hält er es sogar für möglich, dass die zunehmende Altersdemenz mit diesem
Phänomen etwas zu tun haben könnte. Sein Vorschlag, wieder die Lebensrituale mehr
zu beachten, geht in die gleiche Richtung, die Spitzer am Ende seines an vielen Stel-
len zugespitzten, vielleicht auch aus seiner Sorge heraus, manchmal polemischen
Buches macht.
Denn, so sagt er, man kann sich wehren gegen eine Tendenz, die die Grundlagen
unserer Gesellschaft zu gefährden in der Lage ist. Seine Ratschläge, wie man sich
gegen die digitale Demenz wehren kann, erinnern mich doch sehr an die Wege von
spirituellen Lehrern:
* man soll sich gesund ernähren
* man soll sich täglich mindestens eine halbe Stunde bewegen
* man soll weniger in Gedanken sein als im Hier und Jetzt
* man soll sich nur Dinge vornehmen, die machbar sind
* man soll anderen helfen, selbstlos und ohne finanzielle Interessen
* mit Geld wird man nicht glücklich. Man soll es lieber für Ereignisse aus geben als für
Sachen
* man soll gelegentlich bewusst Musik hören und auch singen
* man soll lächeln und damit seine für guten Gefühle zuständige Gehirnareale
unterstützen
* man soll aktiv sein und Hindernisse aus dem Weg räumen
* man soll sein Leben vereinfachen, wo es nur geht
* statt mit Freunden auf Facebook zu chatten, gehen Sie einmal mit realen
* man soll mit allen Sinnen viel Zeit in der freien Natur verbringen, erst recht dann,
wenn man Kinder hat
* man soll, wo es nur geht, die digitalen Medien meiden, vor allem die Kinder
Manche dieser Ratschläge sind so alt wie die spirituellen Traditionen der Menschheit,
andere hören sich für junge Menschen an wie Tipps aus einer anderen Welt. Sagen Sie
einmal einem jungen Menschen, er soll nicht dauernd an seinem I-Phone rumfummeln.
Dennoch und bei aller Kritik: das was Spitzer da in seinem Buch an die Wand malt an
Szenarien, ist zu Teilen schon Realität geworden. In meinem persönlichen Umfeld
mehren sich Begegnungen und Erfahrungen, wo ich Menschen treffe, die etwa im
Verein beim geselligen Beisammensein neben mir sitzen, aber zu keinem wirklichen
Kontakt fähig sind, weil sie dauernd mit ihren Mails etc. beschäftigt sind. Und ich
erlebe immer öfter Zeugnisse eines erschreckenden Niedergangs der schriftlichen
Kultur. Menschen können keine richtigen und vor allen Dingen vollständigen Sätze
mehr formulieren, wie die Steinzeitmenschen kommunizieren sie über Zeichen, die sie
in ihre rudimentären schriftlichen Zeugnisse einbauen, von der Rechtschreibung
einmal ganz zu schweigen.
Quelle: https://www.amazon.de/Digitale-Demenz-unsere-Verstand-bringen/dp/3426276038