Wieder will die EU-Kommission für »mehr Wettbewerb« in der
Europäischen Union sorgen. Bislang müssen Firmen, die in einem
anderen EU-Staat tätig werden wollen, den dortigen Behörden
nachweisen, dass sie sich an die jeweils geltenden Regelungen
halten. Ein bulgarisches Bauunternehmen, das in Deutschland
Häuser hochziehen will, muss seinen Beschäftigten also den
aktuellen Mindestlohn zahlen – und dies gegenüber den hiesigen
Ämtern belegen. Daran will die EU-Kommission rütteln. Inwiefern?
Sie will ein »Dienstleistungspaket« beschließen lassen; eine der darin
enthaltenden Maßnahmen ist die Einführung einer sogenannten Dienst-
leistungskarte.
Bleiben wir bei dem Beispiel der bulgarischen Baufirma. Um in Deutschland
tätig werden zu dürfen, müsste sie diese Karte beantragen – allerdings in
Bulgarien. Die Ausstellung des Dokuments muss dann vom Zielland, also von
Deutschland, bestätigt werden. Dafür verbleibt aber nur eine unrealistisch
kurze Frist von regulär ein bis zwei Wochen, die um zwei Wochen verlängert
werden kann. Versäumen die deutschen Behörden die Frist, wird das als
Genehmigung beurteilt. Nachträgliche Kontrollen sind dann kaum noch
möglich. Dieses System würde noch mehr Sozial- und Lohndumping
hervorbringen.
Die Entscheidung darüber, ob die bulgarische Firma hierzulande arbeiten
dürfte, würde also weitgehend von den deutschen auf die bulgarischen
Behörden übergehen?
Die Behörden im Herkunftsland bekämen tatsächlich maßgeblichen Einfluss
auf die entsprechenden Genehmigungen. Dabei prüfen die Behörden dort –
wenn überhaupt – allenfalls, ob das jeweilige Unternehmen die Regeln des
Herkunftslandes einhält. Die Regeln des Landes, in dem das Unternehmen tätig
werden will, verlieren an Bedeutung.
Angenommen, der deutsche Zoll kontrolliert das bulgarische Bauunternehmen
und überführt es des Lohnbetrugs. Muss nun mit den bulgarischen Behörden
abgestimmt werden, ob ihm die Dienstleistungskarte entzogen wird?
Dazu, welche Kontrollmechanismen es geben soll, sagt die EU-Kommission
bisher wenig. Aber fest steht: Ein Entzug der Karte wäre äußerst langwierig
und schwierig. Eigentlich ist die Karte ein Freifahrtschein, der für immer gilt.
Ich selbst habe einmal eine Baustellenkontrolle begleitet: Es gab nur 220
Beschäftigte, aber ganze 80 Firmen aus etlichen EU-Staaten, für die sie tätig
waren. Das macht die Situation der Kontrollbehörden schon heute kompliziert.
Mit der Dienstleistungskarte würde es nochmals schwieriger.
Vor zehn Jahren gab es in der EU bereits die Diskussion über den Bolkestein-
Entwurf, mit dem das »Herkunftslandprinzip« eingeführt werden sollte. Dann
hätte ein Unternehmen nur Bestimmungen im eigenen Land erfüllen müssen,
um in einem anderen tätig werden zu dürfen. Den Vorschlag wehrten die
Gewerkschaften ab …
Tatsächlich versucht die EU-Kommission die Bolkestein-Regeln durch die
Hintertür einzuführen. Denn de facto bekämen künftig Regeln des Herkunfts-
lands maßgebliche Bedeutung für die Erteilung der Erlaubnis, in einem
anderen Land tätig zu werden.
Die EU-Kommission hat nie aufgehört, einen mangelnden Wettbewerb im
Dienstleistungsbereich zu beklagen. Dem halte ich entgegen, dass wir gerade
in diesem Bereich oft niedrige Löhne finden. Und was nun droht, würde den
Druck auf Entgelte und Arbeitsbedingungen weiter erhöhen.
Aber die EU ist so durchdrungen vom Liberalisierungsgedanken, dass alles,
was mit sozialer Absicherung oder Arbeitnehmerschutz zu tun hat, auf der
Strecke bleibt. Ich dachte eigentlich, dass nach der »Brexit-Abstimmung« in
Großbritannien einmal innegehalten würde, um darüber nachzudenken, was die
EU ändern sollte. Doch geändert hat sich nur, dass heute von einem »sozialen
Europa« gesprochen wird, während man gleichzeitig eine Politik betreibt, die
dem entgegensteht.
Lässt sich die Dienstleistungskarte noch verhindern?
Wir gehen davon aus, dass das Europäische Parlament im Dezember darüber
abstimmen wird. Deswegen wollen wir nun Druck auf die Abgeordneten aus-
üben, damit sie Korrekturen vornehmen und die Karte in dieser Form verhin-
dern.
Auch der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich zu der Frage klar positio-
niert. Als europäische Gewerkschaften wollen wir dem Wettbewerb nach unten
einen Riegel vorschieben – denn wir treten tatsächlich für ein soziales Europa
ein.
Interview mit Stefan Körzell (Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des
Deutschen Gewerkschaftsbunds - DGB) von Johannes Supe
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/313292.dieses-system-bedeutet-mehr-
lohndumping.html