Annick Coujean stieß anfangs bei ihren Recherchen, was die Rolle der Frauen in Libyen 
betraf, auf eine Mauer des Schweigens. Das verwunderte angesichts der weit verbreiteten
Ansicht, dass in Libyen die Frauen angeblich freier und gleichberechtigter seien als in
anderen moslemischen Ländern.
Schließlich erkannte sie, dass es hier ein kollektives Trauma gab, ausgelöst von einem
Mann, dem lybischen „Führer“ und Diktator  („Papa Muammar“, wie er sich gerne
nennen ließ), der im Laufe seiner langen Regentschaft hunderte Frauen und Mädchen in
diesem Land geschändet, vergewaltigt und mißbraucht hat. Und das in einem mosle-
mischen Land wie Libyen, wo die Ansicht gilt, dass, wenn die Tochter oder Frau einer
Familie „entehrt“ wird, gleichzeitig die „Ehre“ der gesamten Familie beschmutzt ist!  Und
wieder hergestellt werden muss – meist durch Verstoßen oder, noch besser, durch den
Tod der „entehrten“  Tochter, Frau oder Schwester!!! 
Man kann sich also vorstellen, welches Leid eine Vergewaltigung in einem Land wie
Libyen über die jungen Frauen und Mädchen, aber auch über deren Familienan-
gehörigen, bringt.  Die „entehrten“ Frauen und Mädchen haben keine Chance mehr auf
ein normales Leben. Sie, die Opfer, bekommen keinerlei Hilfe oder Mitleid seitens ihrer
engsten Verwandten oder Freunde. Im Gegenteil, sie werden ausgestoßen, als „Huren“
beschimpft -  und müssen darüber hinaus sogar noch um ihr Leben fürchten!!!
Soraya brach ihr Schweigen, denn sie will vor allem eines: Gerechtigkeit und dass die
Weltöffentlichkeit  erfährt, was für ein Monster Gaddafi in Wirklichkeit war (der ja  von
Millionen Menschen, vor allem in der arabischen und moslemischen Welt, bejubelt und
bewundert wurde) und was sich in all den Jahren seiner Herrschaft in Libyen und hinter
den Mauern seines Palastes, seiner Festung, tatsächlich abgespielt hat. Mehr dazu - und
über das Buch von Annick Coujean -  siehe Details ...
Aber auch noch jemand anderer erklärte sich bereit, über die Gräueltaten des Diktators
zu reden: Mohammed al-Alagi, ehemaliger Interimsjustizminister, nach dem Sturz
Gaddafis Präsident des Höchsten Rates der öffentlichen Freiheit und der Menschenrechte
in Libyen.  Und er fordert lückenlose Aufklärung über diese grauenvollen Verbrechen 
und vor allem auch Gerechtigkeit für die Opfer.
„Gaddafi hat vergewaltigt“, sagte Mohammed al-Alagi. „Er selbst vergewaltigte, in
großem Ausmaß, und er hat Vergewaltigungen angeordnet. Männer wie Frauen waren
davon betroffen. Er war ein sexuelles Monster, pervers und sehr gewalttätig.“ (….)  „Selbst
in den letzten Tagen seines Lebens, als er verfolgt wurde, hielt er sich nicht zurück. Er hat
Jungen im Alter von siebzehn Jahren vor seinen Wachleuten sexuell belästigt. Egal, wo er
war! Auf brutale Art und Weise!  Wie ein Fuchs. Wir haben übereinstimmende
Zeugenaussagen. Und ich weigere mich, im Gegensatz zu einigen anderen, in diesem
Zusammenhang von seiner Privatsphäre zu sprechen.  Es geht hier nicht um einen
Liebesakt, sondern um begangene Verbrechen. Und Vergewaltigung ist für mich das
schlimmste aller Verbrechen.“
Als Annick Cojean ihm von Soraya erzählt, dem Kellergeschoß und allem, was sie in der
Vergangenheit durchgemacht hatte, zweifelte er keinen Moment daran, dass sie zutrafen.
Es imponierte ihm, dass Soraya die Kraft gefunden hatte, darüber zu sprechen.  „Ich
möchte, dass man jedem einzelnen Opfer Gaddafis Gerechtigkeit widerfahren lässt“, sagte
er. „Das wäre das Mindeste. Das muss ein erklärtes Ziel dieses neuen Regimes sein. Ich
möchte Untersuchungen dazu, öffentliche Anhörungen, Verurteilungen, Wiedergutmach-
ungen. Um vorwärtszukommen, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen, einen Staat
aufzubauen, muss das libyische Volk wissen, was sich zweiundvierzig Jahre lang
abgespielt hat. Hinrichtungen durch den Strang, Folterungen, Freiheitsberaubungen,
Massenmorde, sexuelle Verbrechen jeder Art. Niemand macht sich eine Vorstellung
davon, was wir durchlitten haben. Es geht nicht um Rache, nicht mal um Bestrafung.
Eher um eine Katharsis.“
Es würde kompliziert werden, natürlich. Er leugnete es nicht. Es fehlte an den nötigen
Mitteln und Strukturen, an der Koordination.  Der Regierung war die genaue Anzahl von
Gefängnissen nicht  bekannt, viele befanden sich in der Hand bewaffneter Milizen, und
das Justizsystem war weit davon entfernt, stabil zu sein. Aber man musste Transparenz
fordern, kein Verbrechen durfte im Dunkeln bleiben.“  (S. 273 ff.*)
Als Annick Cojean das Wort „Sklave“ im Zusammenhang mit Soraya erwähnte, reagierte
er hietzig: „Gaddafi hat uns alle wie Sklaven behandelt! Er hat all sein früheres Leid über
sein Volk gespien und damit unsere Kultur zerstört, unsere Geschichte bezwungen und
Tripolis die Öde der Wüste auferlegt. Gewisse Leute aus dem Westen waren ganz
hingerissen von seiner angeblichen Kultiviertheit, dabei verachtete er Wissen und
Bildung. Er wollte unbedingt der Mittelpunkt der Welt sein!  Ja, er hat die libysche
Gesellschaft  verdorben, indem er sie gleichzeitig zum Opfer und zum Komplizen machte
und seine Minister in Marionetten und Zombies verwandelte.
Ja, Sex war in Libyen ein Machtinstriument: „Entweder du machst dich ganz klein und
gehorchst mir, oder ich vergewaltige dich, deine Frau, deine Kinder.“ Und er zögerte
nicht, seinen Worten Taten folgen zu lassen, womit er alle zum Stillschweigen verurteilte.
Die Vergewaltigung diente ihm erst als politische Waffe, dann nutzte er sie als
Kriegswaffe.“ (S.276 ff.*)
                      Vergewaltigungen während der Revolution
Mohammed al-Alagi fiel sehr aus dem Rahmen im Vergleich zu anderen libyschen
Politikern, die Annick Cojean im Zuge ihrer Recherchen getroffen hatte, und er hatte auch
keine Angst, zitiert zu werden. Und er leugnete auch nicht die Vergewaltigungen, die in
Libyen stattgefunden hatten – auch während der Revolution von den Truppen Gaddafis.
Sie schreibt: „Sie hatten tausendfach stattgefunden. In allen Städten, die von den Milizen
und Söldnern des Diktators besetzt waren, und ebenso in den Gefängnissen. Kollektive
Vergewaltigungen, die von alkoholisierten, unter Drogen stehenden Männern verübt und
per Handy gefilmt wurden. Der Internationale Strafgerichtshof, der im Juni 2011 einen
Haftbefehl  gegen den Diktator erließ, hatte schon sehr früh diese Politik der
systematischen Vergewaltigung angeprangert, doch es erwies sich als sehr schwierig, die
entsprechenden Beweise zusammenzutragen, die Opfer blieben unauffindbar.
 Die Frauen schwiegen. Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte, Frauenorganisationen, die
ihnen helfen wollten, hatten große Mühe, an sie heranzukommen. Sie zogen sich zurück,
verschanzten sich hinter ihrer Scham und ihrem Schmerz. Einige waren aus eigenen
Stücken geflohen, andere von ihren Familien verjagt worden. Wieder andere waren
inzwischen mit Rebellen verheiratet, die sich freiwillig zur Ehrenrettung dieser
„Kriegsopfer“ gemeldet hatten.  Einige wenige, so sagte man mir, waren von ihren sich in
ihrer Ehre verletzt fühlenden Brüdern getötet worden.“ (S.276 ff.*)  
In einem  Gefängnis in Misrate führte die couragierte Journalistin auch Gespräche mit
zwei Vergewaltigern: „Zwei armselige Typen, zweiundzwanzig und neunundzwanzig
Jahre alt, die sich bei Gaddafis Truppen verpflichtet hatten, zitterten, als sie, mit
unstetem Blick, detailliert von ihren Schandtaten berichteten. Es war ein Befehl sagten
sie. Man habe ihnen „Pillen, die einen durchdrehen lassen“ gegeben und gleichzeitig
Schnaps und Haschisch. Dabei wurden sie von ihren Vorgesetzten mit der Waffe bedroht.
„Manchmal vergewaltigten wir die ganze Familien. Mädchen, die acht, neun Jahre alt
waren, junge Frauen um die zwanzig, ihre Mütter, mitunter im Beisein eines Großvaters.
Sie heulten, wir schlugen hart zu. Ich höre heute noch ihr Schreien. Ich kann gar nicht
sagen, was sie für Schmerzen gehabt haben müssen! Aber der Chef der Brigade hat uns
dazu gezwungen: vergewaltigt, schlagt zu und filmt! Das schicken wir dann ihren
Männern. Wir wissen, wie man diese Arschlöcher demütigt!“ 
Der erste Vergewaltiger verdammte Gaddafi und flehte darum, dass man bloß nicht seiner
Mutter erzählte, welcher Sache man ihn beschuldigte. Der zweite jammerte, dass ihn die
Gewissenbisse plagten, dass er keine Ruhe finde. Er studierte den Koran, betete Tag und
Nacht, hatte alle seine Vorgesetzten denunziert und sagte, dass er jede Strafe akzeptieren
würde. Auch den Tod.“ (S.278*)
„Der Befehl kam von ganz oben“, bestätigte Mohammed al-Alagi. „Uns liegen
Zeugenaussagen aus dem engsten Umfeld von Gaddafi vor. Ich selbst habe seinen
ehemaligen Außenminister, Mussa Kussa, sagen hören, er sei dabei gewesen, als Gaddafi
den Kata’ìb-Anführern befahl: „Erst vergewaltigen, dann töten.“  Es entsprach seiner
Gewohnheit, mit dem Sex als Waffe zu regieren und die Leute zu vernichten.“
Bedurfte es noch weiterer Beweise dafür, dass es sich um ein systematisches Vorgehen
handelte? Um Vorsätzlichkeit? Sie lagen auf der Hand. Hunderte von Viagra-Schachteln
waren in Bengasi, Misrata, Zuwara und sogar in den Bergen gefunden worden.
„Überall, wo seine Milizen stationiert waren, hatte man es gefunden. Außerdem haben wir
Verträge über im Voraus bezahlte Bestellungen entdeckt, unterschrieben von der
libyschen Staatsmacht …“ (S. 278 ff.*)
                        Der Vergewaltiger wurde selbst vergewaltigt
Doch die Libyer hatten sich zum Schluss an ihrem „Führer“, ihrem Peiniger und
erbarmungslosen Unterdrücker, ihrem sadistischen Vergewaltiger,  gerächt.  Denn zum
Schluss, kurz vor seinem Tod, wurde er selbst „vergewaltigt“.  Das belegte ein Video, das
nach dem Tod Gaddafis heimlich in Libyen die Runde machte.
Annick Cojean hat dieses Video gesehen. Sie schreibt dazu: „In der Tat, die breite Masse
hat sich gerächt. Manches Mal während meines Aufenthalts in Tripolis überraschte ich
Libyer dabei, wie sie sich mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination die
chaotischen und obszönen Bilder ansahen, die den von Jubelschreiben der Kämpfer
begleiteten Todeskampf Muammar al-Gaddafis zeigen. Die mit Mobiltelefonen gefilmten
und montierten Sequenzen wurden mit revolutionären Gesängen unterlegt, die die
Heldentaten der Aufständischen feierten.
Ein Bild allerdings wagten die Rebellen meist nicht in ihre Videos einzufügen. Zwei
Frauen führten es mir wenige Tage nach dem Tod des Führers auf ihrem Handy vor,
wobei sie den Finger auf die Lippen legten, als handelte es sich um ein Geheimnis. Ich
riss die Augen auf, der Bildschirm war schmal, die Aufnahme ein wenig unscharf.
Ich konnte es nicht fassen! Ich war so schockiert, dass ich glaubte, mich zu täuschen.
Aber nein, es war genau das, was ich sah: Noch vor der Exekution, den Schlägen, den
Schüssen, all dem Drunter und Drüber, rammte einer der Rebellen dem gestürzten
Diktator einen  Holzstock oder eine Metallstange zwischen die Hinterbacken, er fing
sofort an zu bluten. „Vergewaltigt!“, flüsterte eine der beiden Frauen, ohne eine Spur des
Bedauerns.
Ein Anwalt aus Misrata bestätigte mir den Vorfall. „Viele Libyer haben sich durch diese
symbolische Geste gerächt gefühlt!  Bevor er sterben durfte, wurde der Vergewaltiger
vergewaltigt.“ (S. 280 ff.*) 
*)  Annick Cojean “Niemand hört mein Schreien”,
                      2013, Aufbau Verlag
Kein Wunder also, dass die meisten Libyer und Libyerinnen zu dem
Thema nichts sagen wollen. Zu groß ist die Angst vor den möglichen
Konsequenzen. Annick Cojean traf schließlich auf Soraya – eine
junge hübsche Frau, die im Alter von 15 Jahren von Gaddafis Leuten
(er hatte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die dafür zuständig war,
hübsche Mädchen ausfindig zu machen und sie dann in seine Festung
zu bringen) entführt und in seiner Residenz  Bab al-Aziziya fünf lange
Jahre als seine Sexsklavin gefangen gehalten wurde.
Was hat diese Geste zu bedeuten?
Auf den ersten Blick wirkt sie völlig
 unverdächtig. Doch für das Mädchen
 hatte es furchtbare Folgen. Denn
Gaddafi zeigt seinen Leibwächtern
damit, dass er dieses Mädchen haben
 will – ihr stand eine (od.viele)
 Nächte sexueller Gewalt bevor.