Bei jeder Gelegenheit liest der libysche Staatschef aus seinem "Grünen Buch" - so auch bei seiner
Fernsehansprache am Dienstag. Was steckt hinter der mysteriösen Schrift, für die einst sogar eine
deutsche Eishockey-Mannschaft warb?
Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi ist nicht nur Revolutionsführer und
Alleinherrscher, sondern auch Autor. Gaddafis "Grünes Buch" gilt als eine Art pan-
arabische Mao-Bibel. In Libyen hat das Diktatoren-Werk Verfassungscharakter und ist
Pflichtlektüre in Schulen und Universitäten. In den 1980er Jahren sponserte Gaddafi sogar
den deutschen Eishockey-Verein ECD Iserlohn, damit dessen Spieler auf ihren Trikots für
das "Grüne Buch" warben.
In dem dreiteiligen Werk, das Ende der 1970er Jahre erschien, erläutert Gaddafi seine "Dritte
Universaltheorie", eine Alternative zum Kapitalismus und Kommunismus, die von vielen als
arabisch-sozialistische Kampfschrift verstanden wird. Gaddafi geht es darin um eine
Volksdemokratie und um eine sozialistisch anmutende Wirtschaftstheorie, die er als Heilslehre für
die gesamte Menschheit preist.
Der Münsteraner Islamwissenschafter, Lektor und Soziologe Heiner Lohmann kennt die abstruse
Gedankenwelt des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten
mit dem Despoten, hat das "Grüne Buch" ins Deutsche übersetzt und eine Dissertation darüber
verfasst. Telepolis sprach mit Heiner Lohmann über das "Grüne Buch" und die wirre
Weltanschauung des libyschen Diktators.
Herr Dr.Lohmann, was ist das "Grüne Buch"?
Heiner Lohmann: Ein Mythos. Man hat es oft als politische Theorie missverstanden, aber es hat keinen
Argumentationszusammenhang. Es dient der Identitätsstiftung. Wenn man es liest, versteht man es eigentlich
überhaupt nicht, weil es in sich sehr widersprüchlich ist. Das liegt daran, dass Gaddafi in diesem Buch Begriffe
benutzt, die ihm in dieser Funktion nicht zur Verfügung stehen.
Das Buch ist also keine arabisch sozialistische Kampfschrift?
Heiner Lohmann: Das hat man lange geglaubt. Was er geschaffen hat, ist ein beduinischer Mythos der
Herrschaftsfreiheit und der Subsistenzwirtschaft und der gegenseitigen Hilfe unter Verwandten. Das ist die
Struktur, die dem "Grünen Buch" zugrunde liegt.
Eine Art anti-staatlicher Utopie?
Heiner Lohmann: Es ist sehr anti-staatlich. Er nennt es direkte Demokratie und lehnt jede staatliche Institution ab.
Das "Grüne Buch" ist eine illusionäre Weltdeutung. Die Botschaft ist: Die ganze Welt besteht aus Stämmen. Was
die ganze Welt tun muss, um erlöst zu werden, ist eigentlich nur Verwandtschaftsbeziehungen zu pflegen. Weil
das Buch so unverständlich ist, ist es gleichzeitig für die Beduinen sehr inspirierend, wie ein religiöser Text.:
undurchsichtig und sehr inspirierend.
Ist es vergleichbar mit der Mao-Bibel, mit Marx "Das Kapital" oder Hitlers "Mein Kampf"?
Heiner Lohmann: Nein. Das "Grüne Buch" ist etwas regionales, ein narrativer, sehr auf Libyen bezogener Mythos.
Hat Gaddafi denn in seiner Politik die Theorien aus dem "Grünen Buch" verfolgt?
Heiner Lohmann: Gaddafi hat immer behauptet, was ich in Libyen mache, ist das, was ich im "Grünen Buch"
geschrieben habe. Aber er hat es auf keinen Fall umgesetzt. Er hat genau das Gegenteil gemacht. Er hat nie
versucht, in Libyen eine direkte Demokratie zu errichten. Die Realpolitik, die er betrieben hat, steht im krassen
Widerspruch zu seiner Weltanschauung, die im "Grünen Buch" hinterlegt ist. Diesen Widerspruch konnte er in
Libyen nur überbrücken, weil die Libyer selbst eine mythische Vergangenheit und Tradition haben. Die Libyer
glauben, dass ihre Jahrtausende alte beduinische Tradition gar nicht aufgehört hat. Darin hat Gaddafi angeknüpft
und die Libyer eigentlich betrogen.
Dennoch war das Buch ja auch für eine internationale Leserschaft bestimmt. Es wurde in mehrere
Heiner Lohmann: Gaddafi hat das "Internationale Zentrum für die Erforschung und Verbreitung des Grünen
Buches" in Tripolis gegründet. Da hat er eine Menge Geld reingesteckt, damit das "Grüne Buch" auf der ganzen
Welt verbreitet wird. Es sind wissenschaftliche Symposien abgehalten worden, auch von Wissenschaftlern aus
dem Westen, um das "Grüne Buch" zu diskutieren. Das waren Farce-Veranstaltungen, weil man das Werk
eigentlich gar nicht versteht.
Hat das "Grüne Buch" islamischen Inhalt?
Heiner Lohmann: Nicht im Geringsten. Es hat zwar sakralen Charakter, aber vom Inhalt her überhaupt nicht. Es
ist rein diesseitig. Gaddafi fällt historisch weit hinter den Islam zurück. Der Islam ist ein Monotheismus, eine
Jenseits-Religion. Gaddafi vertritt im "Grünen Buch" was vor dem Islam war, was der Islam überwunden hat.
Gaddafi hat demnach ein Buch geschrieben, dessen Inhalt die Libyer in ihrer beduinischen Identität
bestätigt und seine Herrschaft legitimiert?
Heiner Lohmann: Das ist die Funktion in Libyen gewesen, aber die Absicht von Gaddafi war viel größer. Er wollte
der Welt zeigen, wie eine Gesellschaft aussehen muss, um alle Sozialpathologien zu beseitigen.
Es ist also eine Schrift, die Libyer im Zuge des Pan-Arabismus, dann den afrikanischen Kontinent und
letztlich die ganze Welt, in der Vorstellung der Stämmen und Klans eint?
Heiner Lohmann: Richtig. Dabei muss man allerdings bedenken, dass er überhaupt nicht unterscheiden kann
zwischen einer beduinischen Stammesgesellschaft und den parlamentarischen Demokratien bei uns. Das
versteht Gaddafi überhaupt nicht. Er behauptet aber, wenn er sein System der Welt überstülpt, wären alle
Probleme gelöst. Das ist eine illusionäre Weltdeutung. Das ist total naiv, auf dem Niveau eines siebenjährigen
Kindes. Daher kann er das argumentativ auch nicht begründen.
Warum kann Gaddafi nicht über dieses Sicht der Welt hinaus denken?
Heiner Lohmann: Das entspricht nicht seinem Weltbild, das ihm im Wege steht, um die moderne Welt zu
verstehen. Er behauptet, die ganze Welt ist ein Beduinenstamm. Damit hat er die gesamte Welt zu sich
geholt, in seine Lebenswelt.
Deshalb auch seine traditionelle Kleidung - mal Beduinenführer, mal Militär - sein Gefolge auf Reisen, Empfänge
im Beduinenzelt?
Heiner Lohmann: Das ist Show. Gaddafi ist Beduine und Beduinen wollen Eindruck machen, sie inszenieren
sich. Und bei Gaddafi kommt noch sein persönliches Geltungsbedürfnis hinzu. Aber bei den Beduinen in
Libyen kommt das an. Wenn sie Gaddafi so im Ausland sehen, dann denken sie, dass er für ihr Land Ehre
schafft. Das ist beduinisches Verhalten gepaart mit gaddafischem Größenwahn.
Während seiner Rede im Fernsehen am vergangenen Dienstag hat Gaddafi erneut aus dem "Grünen Buch"
vorgelesen. Glauben Sie, er nutzt es auch jetzt für politische Entscheidungen?
Heiner Lohmann: Ich glaube, er liest darin, um zu gucken, was er für tolle Sachen gemacht hat. Er hat das
"Grüne Buch" immer nur für seine Zwecke instrumentalisiert. Er liest es jetzt vor, als wäre es ein Evangelium,
dem man nicht widersprechen kann. In Libyen hat er dem "Grünen Buch" ja sogar Verfassungsrang
verliehen, obwohl man es überhaupt nicht versteht.
Es ist Pflichtlektüre in Schulen und Universitäten.
Heiner Lohmann: Richtig. Ich frage mich allerdings, was die darüber reden. Es ist kaum zu verstehen, es ist
ganz fremd. Man darf auf keinen Fall westliche Standards anlegen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was
darin steht.
Ihre Einschätzung: Wie wird sich die Situation in Libyen weiter entwickeln - stirbt der Mythos Gaddafi?
Heiner Lohmann: Gaddafi kann sich nur noch Tage halten und dann bricht der gesamte Klan zusammen, der
das Land im Griff hat. Gaddafi hat die Macht geschickt verteilt, nach dem Prinzip "divide et impera", hat vieles
von sich abhängig gemacht. Das bricht alles zusammen, wenn Gaddafi nicht mehr an der Macht ist.
In seiner Fernsehansprache hat Gaddafi erklärt, er würde als Präsident zurücktreten, könne das aber nicht.
Heiner Lohmann: Das ist eine der typischen gaddafischen Lebenslügen. Er fühlt sich ja als Beduinenfürst. Er
würde niemals zugeben, dass er Diktator oder Staatschef ist. Er behauptet, ich bin einer von euch. Da knüpft
er wieder an diesen ewigen Mythos des Beduinentums an. Er behauptet, wir haben doch überhaupt keine
Diktatur hier, ich bin euer Stammesführer. De facto ist er natürlich autokratischer Militärdiktator. Nichts
passiert ohne seinen Willen.
Sind Sie überrascht von der Brutalität, mit der das Regime versucht zu überleben?
Heiner Lohmann: Nein, überhaupt nicht. Gaddafi ist völlig skrupellos. Er ist ein völliger Egozentriker. Er würde
alles tun, um an der Macht zu bleiben. Wenn er eine Atombombe hätte, würde er sie auf die Nachbarländer
werfen, um endlich Ruhe zu haben.
von Florian Flade, 27.02.2011
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/34/34268/1.html