Innergriechische Ursachen
Als Ursachen der griechischen Finanzkrise, die sich maßgeblich auf das
Verhalten von Regierungen und Institutionen oder auf Geschehnisse in
Griechenland selbst zurückführen lassen, werden genannt:
Beitritt zur Eurozone und Handelsbilanzdefizite
- Der Eurobeitritt 2001 hatte für Griechenland erhebliche Folgen. Einerseits
durch Festlegung eines hohen Wechselkurses, andererseits durch die Aufgabe
einer nationalen Geldpolitik, mit der es die Wettbewerbsfähigkeit seiner
Wirtschaft im Zweifelsfall hätte verbessern können um Handelsbilanzdefizite zu
beheben.
- Griechenlands Wirtschaft wies Handelsbilanzdefizite auf. Vor dem EG-Beitritt
1981 war der griechische Export durch wenig technologieintensive Produkte
geprägt wie Nahrungsmittel, Textilien und mineralische Produkte.
Griechenland konnte diesen Rückstand bei technologieintensiven Produkten
zu den anderen EG-Mitgliedstaaten in den folgenden Jahren nicht aufholen.
- Griechenland gehörte zu jenen Staaten, welche die EU-Konvergenzkriterien
„im Entscheidungsjahr“ 1999 mit 3,07 % Staatsdefizit des BIP und einer
Schuldenquote von ungefähr 100 % nicht erfüllten; da bei einer Näherung an
den Referenzwert bei „hinreichend rückläufiger" Entwicklung eine Teilnahme
möglich war, wurde es im Jahr 2001 in die Eurozone aufgenommen. Entgegen
dem Vertrag von Maastricht, nach dem ein Euro-Land auch nach der Einfüh-
rung des Euros sowohl das jährliche Haushaltsdefizit als auch den Staats-
schuldenstand in Richtung Grenzwert abbauen muss, gelang Griechenland die
Reduzierung der überschrittenen Kriterien nicht. Die Zinslastquote (staatlicher
Zinsaufwand im Verhältnis zum BIP) ging zwar zurück, lag aber weiterhin über
derjenigen anderer Euroländer und stieg wieder an.
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Überdurchschnittliche Lohnerhöhungen nach der Euroeinführung: 2002
wurden die Löhne im privaten und öffentlichen Bereich um 12 bis 15
Prozent erhöht.
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Geringe Investitionen: Die Investitionen waren seit der Euro-Einführung
mit Ausnahme des Jahres 2003 rückläufig, was wegen des hohen
Investitionsbedarfs kritisiert wurde.
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Intransparenz der Staatsausgaben: Ungenügende Kontrollmechanismen
bei Auftragsvergaben des Staates ermöglichten Korruption. Große
intransparente Projekte wurden initiiert und teilweise realisiert.
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Überdimensionierter und ineffizienter Staatsapparat: Traditionell ver-
schaffen die jeweils Regierenden den Mitgliedern ihrer Partei Arbeits-
plätze in der Verwaltung, wodurch der Staatsapparat personell aufge-
bläht und nicht nach Kompetenz besetzt ist. Eine erstmals im Juli 2010
durchgeführte Zählung aller staatlichen Angestellten ergab die Zahl
768.009. Somit waren 2010 rund 17,49 % aller 4,389 Mio. Erwerbstätigen
beim Staat angestellt (zu den Zahlen siehe Abschnitt Wirkung der Spar-
maßnahmen). Der Wirtschaftsprofessor Panajiotis Petrakis ging im Jahr
2010 davon aus, dass bis zu 24 Prozent aller Arbeitnehmer im öffent-
lichen Sektor beschäftigt waren. Die Hälfte davon hatte allerdings nur
Zeitverträge ohne Beamtenstatus. 2011 sprechen andere Quellen von
etwa 1,1 Mio. Staatsbediensteten. Das General Accounting Office (GOA)
(zu deutsch etwa: Oberster Rechnungshof) schätzt für 2012 die Zahl der
Angestellten auf 727.458. Das entsprach 2012 rund 19,33 % aller 3,763
Mio. Erwerbstätigen. Die Staatsbediensteten genossen viele finanzielle
Vorteile, beispielsweise 14 Monatsgehälter.
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Phantomrentner: Ein häufig genanntes Beispiel für die Ineffizienz des
griechischen Behördenapparates ist die Auszahlung von Renten über
den Tod der Empfänger hinaus („Phantomrentner“). Im Herbst 2010
begannen die Behörden, solche zu suchen;[87] im November 2011 teilten
sie mit, dass es bislang vermutlich fast 21.000 Phantomrentner gibt. Die
griechische Rentenkasse stoppte Anfang 2012 die „Überweisungen an
63.500 angebliche Ruheständler“ und spart dadurch 450 Mio. Euro
jährlich.
Hohe Militärausgaben: Wegen der Spannungen mit der Türkei sind diese,
bezogen auf das BIP, größer als die der anderen EU-Länder. Auch die Truppen-
stärke von fast 130.000 Soldaten ist überproportional hoch. Rüstungsgüter
wurden insbesondere in den USA, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden
und Russland gekauft.
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Griechenland hatte in den Jahren vor der Krise einige Steuern gesenkt,
was zu einer Verringerung der Staatseinnahmen führte. 2007 lagen die
Steuern auf Einkommen aus Gewinnen und Vermögen in Griechenland
bei 15,9 Prozent, in Deutschland bei 24,4 Prozent; den Höchstwert in der
EU gibt es im Vereinigten Königreich mit 42,7 Prozent.
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Griechenland lässt eine überdurchschnittlich große Schattenwirtschaft
von geschätzten 40 Prozent des BIP (Schätzung für Deutschland: 15
Prozent) zu und verliert damit jedes Jahr Steuereinnahmen zwischen
(geschätzt) 12 und 30 Milliarden Euro. Obwohl alleine die Eindämmung
der Steuerhinterziehung einen Haushaltsüberschuss erzeugen würde
und damit die griechische Finanzkrise hätte verhindern können, wurden
die steuerpflichtigen Bürger von den Finanzbehörden nicht intensiver
kontrolliert.
Im Dezember 2011 organisierte die griechische Denkfabrik Hellenic Foundation
for European and Foreign Policy eine Konferenz zum Thema
Steuerhinterziehung. Dort wurde der Schaden bzw. Einnahmeausfall durch
Steuerhinterziehung auf 13 Mrd. Euro jährlich geschätzt. Nach Diomidis
Spinellis bekomme der Staat zudem nur einen geringen Anteil der Steuern, die
für dieses Steuerdelikt eigentlich bezahlt werden sollten.
Es wird geschätzt, dass die griechische Staatskasse durch Benzinschmuggel
in den letzten 20 Jahren ca. 25 Mrd. Euro verloren hat. Ähnlich liegen die
Probleme, was den Zigarettenschmuggel angeht.
Als eine Ursache nannte einige Autoren die unzureichende Durchsetzung der
Verträge der EU: Die EU-Behörden haben trotz frühzeitiger Kenntnis der
wirtschaftlich kritischen Lage von Ländern wie Griechenland weder in
wirksamer Weise das Verfehlen der Kriterien thematisiert, noch Gegen-
maßnahmen gefördert. Nach Ansicht der Journalistin Ursula Welter ist der
Mangel an automatischen Sanktionen bei steigenden Schulden zu bean-
standen. Kurzfristig dürfen EU-Länder den Haushaltssaldo und Schuldenstand
übermäßig ausweiten, ohne Konsequenzen seitens der EU fürchten zu müssen.
Das im Vertrag von Maastricht festgelegte Verbot der Haftungsübernahme für
Schulden (No-Bailout-Klausel) sei zudem ausgehöhlt.
Als Ursachen der griechischen Finanzkrise, die sich im Schwerpunkt auf das
Verhalten von Regierungen und Institutionen oder auf globale Geschehnisse
zurückführen lassen, werden auch folgende Sachverhalte genannt:
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Unter den Anlegern bestand eine falsche Einschätzung des Risikos.
Unter anderem griechische Staatsanleihen wurden wegen der nur leicht
höheren Zinsen gekauft, ohne wachsende Probleme zu beachten. Mit
Ausbruch der Finanzkrise ab 2007 begannen die Risikoprämien auf
staatliche Schuldpapiere Griechenlands zu steigen.
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Die im Zuge der weltweiten Finanzkrise ab 2007 ergriffenen Maßnahmen
zur Bankenrettung werden als weitere Ursache der griechischen Finanz-
krise gesehen. Nach Irland war Griechenland am stärksten von einem
angeschlagenen Bankensektor betroffen. Um Banken vor einem mög-
lichen Bankrott zu retten, wandelte die griechische Regierung Kredit-
risiken der privaten Finanzinstitutionen durch Garantien und bezu-
schusstes Kapital in staatliche Risiken um. Durch diese Übernahme der
Risiken aus den Geldhäusern stieg das Ausfallrisiko. Es wurde in Folge
für den griechischen Staat aufgrund höherer Risikoprämien teurer, auf
den Finanzmärkten Kapital zu leihen.
Sich gegenseitig verstärkende Ursachen
Sowohl die zunehmende Staatsverschuldung (Tilgungslasten) als auch die
steigenden Risikoprämien (Zinsen bei Staatsanleihen) belasteten den
griechischen Staatshaushalt. Nach der Bankenrettung führte jede
Verschlechterung der Wirtschaftsperspektiven zu einem stärkeren Anstieg der
Risikoprämien bei den Staatsanleihen.[105] Die dadurch weiter steigende
Verschuldung erhöhte wiederum die Zinsen, so dass Ursachen sich
gegenseitig verstärkten und hin zu immer höheren Kapitalkosten führten.
Diskussion um deutsche Lohnstückkosten
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Bereits wenige Jahre nach Einführung des Euro wurden Stimmen laut,
die darauf hinwiesen, dass ökonomische Probleme der südeuropäischen
Staaten auch von der ökonomischen Entwicklung Deutschlands bedingt
seien. Laut Heiner Flassbeck unterschreite Deutschland dauerhaft die
von der Zielinflationsrate vorgegebene Entwicklung der Lohnstück-
kosten, da das Verhältnis von Reallöhnen und Produktivität in Deutsch-
land sinke, was sich in einer Veränderung der Terms of Trade mit
Partnerländern niederschlage. Da innerhalb des Euroraums jedoch kein
Ausgleich durch eine Veränderung der nominalen Wechselkurse mehr
bestehe, würden diejenigen Mitgliedsländer der Währungsunion, die
bereits über eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit verfügten und deren
Lohnstückkosten sich entsprechend der Zielinflation nach oben
entwickelten, in ein hohes Außenhandelsdefizit und somit langfristig in
ein Haushaltsdefizit gedrängt. In diesem Zusammenhang wurde den
niedrigen Lohnsteigerungen in Deutschland und in diesem Zusammen-
hang auch den Maßnahmen zur Arbeitsmarktflexibilisierung eine Ur-
sache an den ökonomischen Problemen im Euroraum zugeschrieben.
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Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso wies
die Vorwürfe, Deutschland habe wegen seiner Exportstärke die ökono-
mischen Probleme der EU verursacht, zurück, denn Deutschland sei
seiner Ansicht nach Wachstumslokomotive gewesen. Verantwortlich für
die makroökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone seien viel-
mehr die Länder, die über ihre Verhältnisse gelebt und die Haushalts-
regeln des Stabilitätspaktes nicht respektiert hätten.
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EU-Sozialkommissar László Andor forderte eine Abkehr vom deutschen
Modell, sich auf Export zu konzentrieren und die Löhne moderat zu
halten, um international zu konkurrieren. „Die Kommission rät Deutsch-
land, die heimische Nachfrage durch höhere Löhne anzuregen und auf
breiter Basis Mindestlöhne einzuführen.“
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Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft widersprach der
Darstellung, dass die Lohnstückkosten in Deutschland zu niedrig seien.
Im internationalen Vergleich habe Deutschland mit die höchsten Lohn-
stückkosten und wichtige Mitbewerber wie die USA oder Japan produ-
zierten sogar um ein Viertel günstiger. Zudem seien nicht nur die deut-
schen Ausfuhren auf Rekordniveau, sondern auch die Einfuhren – die
Unternehmen in Deutschland bezögen viele Vorleistungen aus dem
Ausland und kurbelten so dort die Nachfrage an.
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Georg Erber wies darauf hin, dass die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands aufgrund eines geringeren Lohnstückkostenanstiegs nicht
zu einem überproportionalen Anstieg der Exporte Deutschlands in den
Euro-Raum geführt hat. Stattdessen hätten Deutschlands Exporte
gegenüber den Ländern außerhalb der Eurozone deutlich stärker
zugenommen als innerhalb der Eurozone. Für die deutsche Wirtschaft
sei nicht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit als Wettbewerbsfaktor
entscheidend, sondern die Spezialisierung auf Investitionsgüter und
langlebige Konsumgüter (z. B. Automobile) sowie die hohen
Qualitätsstandards und die Innovationsfähigkeit .