Es geht nicht mehr wirklich um finanzielle Meinungsverschiedenheiten – auf
dieser Ebene unterscheiden sich die Positionen nur noch minimal.
Die EU beschuldigt Griechenland in der Regel, lediglich Allgemeinplätze zu
verbreiten und vage Versprechen ohne belastbare Details zu machen, während
Griechenland der EU vorwirft, dass diese selbst kleinste Details zu kontrol-
lieren versuche und dem Land Bedingungen auferlege, die noch rigoroser
seien als die, die sie der Vorgängerregierung aufgebürdet habe.
Hinter diesen Vorhaltungen steckt jedoch ein ganz anderer, viel tieferer
Konflikt. Der griechische Premier Alexis Tsipras bemerkte unlängst, wenn er
sich allein mit Angela Merkel zum Abendessen träfe, hätten beide binnen zwei
Stunden eine Lösung gefunden. Er wollte damit sagen, dass Merkel und er,
zwei Politiker, den Streit als einen politischen behandeln würden, im Unter-
schied zu technokratischen Verwaltern wie dem Kopf der Euro-Gruppe, Jeroen
Dijsselbloem.
Wenn es in dieser ganzen Geschichte einen Bösewicht gibt, dann ist es
Dijsselbloem mit seinem Motto: "Wenn ich die Dinge erst einmal von ihrer
ideologischen Seite nehme, erreiche ich nichts mehr."
Auch die EU-Technokraten folgen einer Ideologie – nur einer anderen
Damit kommen wir zur Krux des Ganzen: Tsipras und Varoufakis reden, als
seien sie Teil eines offenen politischen Prozesses, in dem letztlich
"ideologische" (auf normativen Präferenzen beruhende) Entscheidungen
getroffen werden müssten.
Die EU-Technokraten reden, als ob es sich bei alldem um eine Frage
detaillierter regulatorischer Maßnahmen handelte, und wenn die Griechen
diese Haltung ablehnen und grundsätzlichere politische Fragen aufwerfen,
wirft man ihnen vor, sie würden lügen und sich vor konkreten Lösungen
drücken.
Die Wahrheit ist hier eindeutig auf der griechischen Seite: Dijsselbloems
Verleugnung der "ideologischen Seite" ist Ideologie in Reinkultur, sie gibt
Entscheidungen, die effektiv politisch-ideologisch begründet sind, fälschlich
als Regulierungsmaßnahmen aus.
Aufgrund dieser Asymmetrie wirkt der "Dialog" zwischen Tsipras oder
Varoufakis und ihren EU-Partnern oft wie das Gespräch zwischen einem
jungen Studenten, der ernsthaft über Grundsatzfragen diskutieren möchte, und
einem arroganten Professor, der diese Themen in seinen Antworten beschä-
menderweise ignoriert und den Studenten wegen technischer Mängel aus-
schilt: "Das ist nicht korrekt formuliert! Diese Regel haben Sie nicht berück-
sichtigt!"
Oder gar wie der Wortwechsel zwischen einer vergewaltigten Frau, die verzwei-
felt berichten will, was ihr widerfahren ist, und einem Polizisten, der sie ständig
mit Fragen nach bürokratischen Details unterbricht.
Diese Umstellung von der eigentlichen Politik auf eine neutrale Experten-
verwaltung zeichnet unseren gesamten politischen Prozess aus: Strategische,
machtbasierte Entscheidungen werden zunehmend als administrative Regulier-
ungen ausgegeben, die auf neutralem Expertenwissen beruhen sollen.
Und sie werden immer öfter hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und
ohne demokratische Beteiligung durchgesetzt.
Der Kampf, der sich vor unseren Augen abspielt, ist der Kampf um die euro-
päische ökonomische und politische Leitkultur. Die EU-Mächte stehen für den
technokratischen Status quo, der Europa seit Jahrzehnten lähmt.
In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkte der große Konservative T.
S. Eliot, dass es Momente gebe, in denen man nur die Wahl zwischen Ketzerei
und Unglauben habe. Dann bestehe die einzige Möglichkeit, eine Religion am
Leben zu erhalten, in einer sektiererischen Abspaltung von ihrem
abgestorbenen Hauptkörper.
Dies ist heute unsere Lage in Europa. Nur eine neue "Ketzerei" (wie sie Syriza
gegenwärtig darstellt) kann retten, was am europäischen Erbe der Rettung wert
ist: die Demokratie, das Vertrauen in die Menschen, die egalitäre Solidarität ...
Das Europa, das gewinnen wird, wenn es gelingt, Syriza auszubremsen, ist ein
"Europa der asiatischen Werte" – was natürlich nichts mit Asien zu tun hat,
dafür aber alles mit der eindeutigen und unmittelbaren Tendenz des zeit-
genössischen Kapitalismus, die Demokratie auszuhebeln.
Slavoj Žižek (übersetzt von Michael Adrian)
Quelle und gesamter Artikel: http://www.zeit.de/2015/27/griechische-schulden-griechenland-
europaeische-union