“Mein Buch löste mit seinem Erscheinen heftige Diskussionen in der islami-
schen Welt aus. Schmäh- und Drohbriefe werfen mir Blasphemie vor. Das
kommt nicht überraschend. (...) Nicht nur Schmähbriefe, sondern auch
erstaunlich viele zustimmende Briefe erreichen mich, von jungen Leuten, die
sich bei mir dafür bedanken, dass ich die Biografie unserer ganzen Generation
in Ägypten geschrieben habe. (...) Gerade von jungen Frauen erhalte ich
zahlreiche Dankesbriefe. Das Buch ist für einen Literaturpreis nominiert, was
die Diskussion noch weiter anheizt.
Eine Debatte in Gang zu setzen war mein Ziel, und dieses habe ich erreicht. In
den ersten beiden Monaten beschränkte sich die öffentliche Diskussion auf
Kairo, niemand in meinem Dorf hat davon etwas mitbekommen. Ich hatte vor,
meinem Vater, meiner Mutter und meinen Geschwistern bei meinem nächsten
Besuch das Buch zu schenken und mit ihnen darüber zu sprechen. Aber das
ägyptische Fernsehen war schneller. “Abschied vom Himmel” wurde von Nile-
TV als Buch des Monats diskutiert.
Ein erfolgloser Romanautor aus dem Dorf sah die Sendung. Nachdem er mein
Buch gelesen hatte, ging er zu meinem Vater und erzählte ihm, dass ich ein
Buch geschrieben habe, in dem ich meine Familie, mein Dorf und ganz
Ägypten in den Dreck zöge. Mein Vater rief mich an und fragte danach. Ich
erzählte ihm von den Umständen der Veröffentlichung und meinen Absichten.
Er meinte, er könne das Buch erst beurteilen, wenn er es selbst gelesen habe.
Mein junger Bruder besorgte ihm ein Exemplar. Mein Vater zog sich in sein
Zimmer zurück und las. Nach drei Tagen rief er mich an und sagte, dass er das
Buch dreimal gelesen habe. Er könne mir seine Meinung aber nicht am Telefon
mitteilen und bat mich, nach Ägypten zu kommen. Kurz zovor hatte ich eine
Forschungsreise in mein Heimatland geplant, um Bücher für meine neue
Forschung zu sammeln und Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Kairo zu
sprechen. Auch mein Verleger wollte, dass ich nach Kairo komme, um das
Buch mit Journalisten und Lesern zu diskutieren. (...)
Ich reist nach Ägypten und in mein Vaterhaus. Während der Fahrt stieg meine
Anspannung. Als ich aus dem Auto stieg, kam mein Vater die Treppe hinunter
und stand schweigend vor mir. Er legte seine Hand auf meine Schulter und
sagte: “Schön, dass du gekommen bist.” Mein Mutter und meine Geschwister
umarmten mich.
Alle waren schweigsam und auch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine
ältere Schwester sagte mir: “Ich bin sauer auf dich. Wie kannst du in deinem
Buch schreiben, das mein Essen ungenießbar war?” Sie versuchte zu lachen
und brach in Tränen aus. Auch meine Mutter konnte ihre Tränen nicht zurück-
halten. Nur mein Vater blieb ruhig und bat meine Mutter und meine Geschwis-
ter, uns allein zu lassen.
Er saß mir gegenüber, schaute mir lange in die Augen und sagte nichts.
Schließlich fragte er mit sanfter Stimme: “Geht es dir gut?”
Ich blickte ihm zum ersten Mal in meinem Leben lange in die Augen. “Ja, mir
geht es gut”.
“Hat dir dieses Buch geholfen, dich besser zu fühlen?”
“Ich habe das Buch oft genug gelesen. Ich finde es sehr gut. Ich kenne
niemanden, der sich selbst mit so viel Ehrlichkeit und Mut begegnet. Du bist
wirklich ein richtiger Mann. Und mir gefällt, dass du trotz allem deinen Humor
nicht verloren hast. Mehr kann ich über das Buch nicht sagen!”
Mittlerweile befanden sich mehr als einhundert Exemplare des Buches im Dorf,
kursierten zwischen den Häusern und wurde von jedem, der lesen konnte,
gelesen. Die Meinungen gingen auseinander. Einige fanden das Buch gut und
konnten die Botschaft und die Fragen darin verstehen. Viele fanden es unisla-
misch und drückten ihre Enttäuschung aus.
Unser Haus war während meines Aufenthalts immer von Besuchern überfüllt,
die mit mir diskutierten. Bei einer Diskussion in der Grundschule forderte mich
ein Lehrer auf, das islamische Glaubensbekenntnis zu sprechen.
Zur Entrüstung aller weigerte ich mich. Ich sagte, dass ich Glauben für eine
Privatsache halte. “Sollte ich das Glaubensbekenntnis vor euch aussprechen,
dann räume ich euch damit das Recht ein, jeden in einem Gerichtsverfahren
nach seinem Glauben zu befragen. Das wäre für mich Inquisition!”
Obwohl ich es ursprünglich nicht wollte, nahm ich die Einladung eines Fern-
sehsenders an, in einem Live-Interview Fragen zu beantworten. Es schien mir
eine gute Gelegenheit, meine Sicht der Dinge einem breiten Publikum zu
präsentieren. Aber auch dort beschränkte sich der Moderator auf die Glau-
bensfrage. Er meinte, er glaube an Meinungsfreiheit und dass man alles in
Frage stellen könne, nur Gott dürfe man nicht hinterfragen.
“Wahrer Glaube ist für mich etwas, das durch Erfahrung und Überzeugung
zustande kommt, nicht etwas, das wir von den Eltern vermittelt bekommen.
Wenn wir Gott nicht hinterfragen, können wir uns selbst nicht hinterfragen.
Und das Ergebnis davon wäre, dass alles bleibt, wie es ist! Die Religion in
Frage zu stellen, heißt allerdings nicht unbedingt die Religion grundsätzlich
abzulehnen!”, erwiderte ich.
Monatelang ging die Diskussion im Dorf weiter, und sie ist immer noch in
vollem Gange. Einer der Lehrer nannte mich ungläubig und schlug vor, alle
Exemplare meines Buches, die den Weg ins Dorf gefunden hatten, vor der
Moschee zu verbrennen. (...) Danach reisten Männer aus dem Dorf nach Kairo,
reichten eine Beschwerde beim Amt für religiöse Angelegenheiten an der Al-
Azhar-Universität ein und beantragten den Erlass einer Fatwa gegen das Buch.
Diese Fatwa sollte ebenfalls betonen, dass ich kein Muslim mehr sei. Das Buch
liegt immer noch zur Begutachtung vor.
Es kam zu heftigen Wortgefechten zwichen Mitgliedern meines Clans und
einigen Nachbarn. Der Streit drohte zu eskalieren. Mein Vater sah sich
gezwungen, etwas zu tun, was er seit Langem nicht getan hatte. Zum ersten
Mal seit zwölf Jahren stieg er auf die Kanzel der Moschee, um an einem Freitag
zu predigen. Die Predigt für private Zwecke zu nutzen, ist im Islam eigentlich
verboten, aber mein Buch war keine private Angelegenheit mehr.
Mein Vater brachte seine Enttäuschung über die Urteile, die einige Dorfbe-
wohner über mich gefällt hatten, zum Ausdruck und sagte zu den wütenden
Moralhütern: “Wir sollten uns ärgern, weil das, was Hamed geschrieben hat,
tatsächlich überall geschieht, und nicht, weil er es geschildert hat.”