“Antonia besuchte mich gelegentlich und kämpfte für meine Verlegung in eine Klinik
in Allgäu. Der Chefarzt machte es von meiner Entwicklung abhängig. Ich kämpfte mit
mir, um nicht mehr zu schreien und so normal zu wirken, wie es nur ging. Ich
verschwieg allen, dass ich nach wie vor Stimmen hörte und auch die weinenden
Zwerge immer noch sah.
Aber schließlich durfte ich nach Kaufbeuren. Die Psychiatrie dort war zwar auch
geschlossen, die Patienten durften aber wenigstens unter Aufsicht ab und zu im
Garten spazieren gehen. Die Ausstattung der Klinik war hell und freundlich. Es gab
moderne Kunstwerke, und die Therapiemethoden waren menschenfreundlich:
Gesprächstherapie, Bewegungstherapie, Entspannungstherapie und Ergotherapie.
Ein Arzt zweifelte an meiner Diagnose und meinte, ich litte unter “multiple Persön-
lichkeitsstörungen”, eine Diagnose, die damals wie auch heute in der Schulmedizin
umstritten ist. Ich bekam andere Medikamente, die zwar verträglicher waren, aber
letztendlich zu den gleichen Giften gehörten.
Ich lernte Leidensgenossen kennen, und sie akzeptierten mich. Schon immer hatte
ich eine gewisse Anziehungskraft auf Außenseiter und Andersdenkende. (...)
Olaf wa ein liebenswerters, vierzig Jahre altes Kind, das täglich Briefe an die
Außerirdischen schrieb. Ein Lehrer, der von seiner Frau betrogen worden war, kroch
auf allen vieren herum und schrie: “Vorsicht, die Russen kommen!!” Wann immer
jemand ihn fragte, wie es ihm ginge, antwortete er: ”Mir gehts gut, mir fehlt nix, weil
ich dreimal tägich wichse.” Ibo war ein Drogenabhängiger auf Entzug. (...)
Ich mochte alle und sie mochten mich. Weder Rasse noch Hautfarbe oder Religion
spielten eine Rolle. Wann immer einer das Krankenhaus verließ, wurden Tränen
vergossen. Aber die Tränen waren meist umsonst, denn der Entlassene kam in der
Regel nach ein paar Tagen wieder. (...)
Ich aber wollte raus. Ein Teil von mir wollte noch leben. Ich tat alles, um den Thera-
peuten davon zu überzeugen, dass ich draußen zurechtkommen würde. Aber das
war nicht einfach. Immerhin war ich auf Gerichtsbeschluss eingeliefert worden. Ich
musste mich einer mehrwöchigen Beobachtung unterziehen, damit sichergestellt
werden konnte, dass von mir keine Gefahr ausging.
Nur ein Kommilitone wagte den Weg zu mir. Ein Araber. Er gab mir den Koran und
sagte: “Deine Heilung liegt nicht in diesem Krankenhaus, sondern in den Wurzeln,
von denen du dich entfernt hast.” (...)
Nicht der Text des Koran, sondern die bloße Rezitation und die Musik der Sprache
beruhigten mich. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, als ich vor meinem Vater
täglich die heiligen Worte rezitiert hatte und gelobt wurde.”
Und dann hatte Hamed Abdel-Samad eine wichtige Erkenntnis, nämlich dass er sich
von seiner Angst, nicht-religiös zu sein, befreien musste: “Ich brauchte meine
Religion, nicht als Glaubenssystem, sondern als Rückbindung an meine Wurzeln.
Ich erinnerte mich an das Dschihad-Konzept meines Vates als Form der Selbstüber-
windung. Mir wurde klar, dass ich mich sowohl von der Religion als auch von der
Angst, nicht-religiös zu werden, befreien musste. Ich sollte weder für noch gegen
die Religion sein. Vielleicht war das der wahre Dschihad.
Endlich durfte ich das Krankenhaus verlassen und taumelte zunächst in der Welt der
“Normalen” wie ein Außerirdischer herum, der zum ersten Mal auf die Erde kommt.
Alles war mir fremd, als wäre ich noch nie in Deutschland gewesen. Die Stimmen
waren übrigens noch da, auch die Alpträume und die Angst. Im Prinzip war mir klar,
was ich tun musste: kämpfen und der Bestie in mir in die Augen schauen. Ich
musste die Büchse der Pandora öffnen.
Aber ich brauchte zunächst Erholung. Monatelang durfte ich nicht verreisen.
Regelmäßig besuchte mich eine Gutachterin des Gerichts. Die Bewährungshelferin
und ein alter Mann von den Zeugen Jehovas waren meine einzigen Gäste.
Nach Ablauf der Bewährungszeit flog ich nach Ägypten, fuhr aber nicht zu meinen
Eltern, sondern blieb in Kairo. Ich wollte vermeiden, dass meine Mutter und mein
Vater mich in diesem Zustand sahen. Ich hatte mehr als zwanzig Kilogramm verloren
und sah aus wie ein Geist. Ich wollte nicht, dass sich die Prophezeiung meines
Vaters über meine Rückkehr erfüllte. Ich habe keiner Bestie in die Augen geschaut.
Mein alter Freund Hosam, dem ich einst die Touristin vor der Nase weggeschnappt
hatte, überredete mich, zu einem Zentrum für Teufelsaustreibungen zu gehen, wo
ein Scheich mit mir anstrengende und schmerzhafte Exorzismusrituale durchführte.
Bei einem Massenexorzismus sah ich, wie Hunderte von Menschen in der Halle der
Moschee wie geschlachtete Hühner zitterten. Der Scheich ging zu jedem, flüsterte
ihm oder ihr einige Koranverse ins Ohr. Daraufhin wurde der Besessene unruhig.
Der Scheich schlug den Kranken ins Gesicht, auf die Beine und peitschte ihn aus.
Dann stach er ihn mit einer Nadel in Hände und Füße, bis sich eine große Blutlache
gebildet hatte. Die Reste meiner Rationalität wehrte sich zwar gegen die Idee, vom
Teufel besessen zu sein, doch in der Hoffnung auf schnelle Hilfe ließ ich nichts
unversucht. Meine Vernunft war durch den Gang meines Lebens ohnehin schon
genug strapaziert worden.
Ich ließ die Geißelungen über mich ergehen, aber anscheinend war mein Teufel
hartnäckig. Der Scheich bat mich, zu einem anderen Zeitpunkt zurückzukommen,
aber ich tat es nicht. Und dennoch fühlte ich mich nach dieser Reise erstaunlicher-
weise besser.
Die Stimmen und die Zwerge verschwanden allmählich. Doch die Angst und die
Unsicherheit blieben in mir, vergraben unter mehreren Schichten von Müll und
Schutzschilden.”