Hamed Abdel-Samad beschreibt die Mißhandlungen durch seinen Vater in
seiner Autobiographie folgendermaßen:
„Manchmal schlug er mich mit dem Bambusstock, einem beliebten Folter-
instrument, weil dadurch keine Knochen gebrochen und keine bleibenden
körperlichen Verletzungen verursacht werden. Die seelischen Wunden zählen
natürlich nicht. Mit dem Bambusstock wurden nur meine Mutter und ich
geschlagen. Mein älterer Halbbruder blieb meist verschont, weil mein Vater
sich wenig um ihn kümmerte, und meine beiden Schwestern, weil ein Vater aus
Prinzip seine Töchter nicht schlagen darf. Mein jüngerer Bruder war noch zu
klein, um bestraft zu werden.“ (S.113*)
„Das Schlimme an den Strafen meines Vaters war, dass sie unberechenbar
waren. So erwischte er mich mehrmals beim Fußballspielen auf der Straße.
Einmal schlug er mich, ein anderes Mal beobachtete er mich beim Spielen und
feuerte mich sogar an: „Schieß Junge!“, und des Öfteren reagierte er nicht. Am
schlimmsten war es, wenn er mich im Zimmer einsperrte und den ganzen Tag
nicht mit mir sprach. Ich wusste nie, war das schon Strafe, oder überlegte er
bloß, welche Strafe für mich angemessen wäre.“ (S.116*)
„Einmal habe ich meiner kleinen Schwester eine Kopfnuss gegeben, weil sie
mein Schulbuch zerfleddert hatte. Sie schrie furchtbar laut, so dass mein Vater
erschrocken aus seinem Mittagsschlaf erwachte. Das war ein zweifaches
Verbrechen, denn er hasste es, geweckt zu werden. (….) Mein Vater kam also
verschwitzt aus seinem Zimmer heraus und fragte, was los sei. Meine
Schwester sagte, dass ich sie gehauen habe. Ohne meine Gründe anzuhören,
fing er an, mich mit dem Bambusstock zu verprügeln. An diesem Tag schlug er
mich länger als sonst. Er warf den Bambusstock weg und fing an, mich mit
Händen und Füßen zu bearbeiten. Als er fertig war, sass ich in meinem Zimmer
und weinte. Da kam er wieder, nahm mich ins Bad und bespritzte mich mit
kaltem Wasser. Dann nahm er mich zum Barbierladen, um mir den Kopf
kahlzuscheren zu lassen. Sonst kam der Barbier immer zu uns nach Hause,
aber mein Vater wollte mich vor den anderen Kunden erniedrigen. Er galt für
alle als der gerechte Imam, der nicht ohne Grund bestraft. Sie verstanden, dass
ich nicht wie jedes Kind war. Ich brauchte besondere Züchtigung und Strenge,
um die Aufgaben, die auf mich als Imam in der Zukunft warteten, meistern zu
können.“ (S.115*)
Auch seine Mutter sah das anscheinend so. Denn wie sehr sie von ihren
eigenen Mann auch misshandelt wurde, sie gab stets sich selbst die Schuld
dafür.
Hamed Abdel-Samad schreibt dazu: „Eine der schrecklichsten Erinnerungen
meiner Kindheit war der Anblick meiner Mutter, die vor den Füßen meines
Vaters kniete. Sie schützte ihr Gesicht und ließ sich von ihm mit Füßen und
Händen schlagen. Sie unterdrückte ihre Schreie, um ihn nicht zu provozieren,
und stand schweigend auf, nachdem er genug hatte. Mit gesenktem Haupt saß
sie ihm gegenüber, als wäre nichts geschehen. Oft stand ich machtlos da und
wollte ihn anschreien: „Du bist ungerecht!“, aber nie hatte ich den Mut dazu.
Ich fragte mich, was meine Mutter verbrochen haben mochte, um so brutal
geschlagen zu werden. Da ich ihn dafür nie bestrafen konnte, suchte ich immer
nach einer Entschuldigung für meinen Vater und eine Erklärung für sein
Handeln. Was geht in diesem Mann vor, den die Leute nur als ausgeglichen
und weise kennen? Warum ist dieser Mann so einsam und gewalttätig?“
„Und warum lässt sie das zu, nach all dem, was sie für ihn geopfert hatte?
Immer stand sie bis zur Selbstverleugnung hinter ihm. Sie sah nur ihn, liebte
nur ihn. Wann immer ich von ihm geschlagen wurde, kam sie danach zu mir,
nicht um mich zu trösten, sondern um mich zu bitten, zu meinem Vater zu
gehen und mich bei ihm zu entschuldigen. Auch wenn er sie schlug, suchte sie
die Schuld bei sich und nicht bei ihm.“ (S.114*)
Infolgedessen ist es nicht verwunderlich, dass für den kleinen Hamed sein
Vater einen unantastbaren Status bekam - und auch sein Gottesbild prägte:
„Gott hatte mehr als ein Gesicht für mich: mein Vater, mein Lehrer, der Polizist
und der Staatspräsident. Alle waren mächtig, wussten alles und durften alles,
und keiner durfte sie nach ihrem Handeln fragen.“