Hamed Abdel-Samed wurde 1971 in einem Dorf (mit ca. 20.000 Einwohnern) in
Ägypten nahe Kairo geboren. Sein Vater war der Imam des Dorfes und daher
eine überaus angesehene und wichtige Persönlichkeit.
Seine Mutter jedoch stammte aus Kairo. Aber auch sie nahm in der Dorf-
gemeinschaft eine Sonderrolle ein, denn sie war außergewöhnlich schön und
außerdem gebildet (eine Seltenheit bei Frauen in Ägypten). Und sie war sehr
rebellisch. So weigerte sie sich zum Beispiel ein Kopftuch zu tragen.  Sie
konnte außerdem bei ihrem Ehemann durchsetzen, dass dieser ihr ein neues
Haus baute und seine erste Frau verstieß, siehe ...
Es ist übrigens in Ägypten und anderen moslemischen Ländern keine
Seltenheit, dass ein Mann zwei oder mehr Frauen hat. Eine Frau, die von ihrem
Mann verstoßen wird oder von der er sich scheiden lässt, hat keine Chance
mehr, einen anderen Mann zu finden. Sie kann nur noch eine „Versorgungs-
ehe“ schließen. Und sie verliert darüber hinaus ihre eigenen Kinder … 
Ja, ein Leben als Frau ist in einem moslemischen Land wie Ägypten nicht
leicht und gemäß Abdel-Samad lassen die Frauen „vieles über sich ergehen,
um das Brot und die Sicherheit für sich und ihre Kinder zu garantieren“...
Es ist in einem solchen Gesellschaftssystem kein Wunder, dass Frauen
oftmals verbittert und hartherzig werden. So erlebte die Großmutter von Abdel-
Samad einst das gleiche  Schicksal. Vielleicht ein Grund, warum seine Mutter
sich nun ebenfalls so hartherzig verhielt …
Doch im Grunde genommen haben auch Männer in einem solchen System
wenig zu lachen. Denn Frauen, die unterdrückt und schlecht behandelt werden,
werden oft zu „Furien“, so wie die Großmutter von Abdel-Samad, die alles im
Haus bestimmte („Zum Glück überlebte sie mein drittes Lebensjahr nicht“ ….)
 
Hamed Abdel-Samad hatte auf den ersten Blick Glück, denn er wurde in eine
privilegierte Familie hineingeboren. Eine Familie, die sich durch Bildung und
Gelehrtheit auszeichnete – allerdings aber auch durch Rücksichtslosigkeit
gegenüber den anderen Dorfbewohnern. Er schreibt dazu: „In der Tat stammte
mehr als die Hälfte aller gebildeten Menschen im Dorf aus unserem Clan,
obwohl unser Clan nur fünf Prozent der Dorfbewohner ausmacht.“ (S.132*)
Hamed Abdel-Samads Vater hieß Nagy und war der große verehrte und
unfehlbare Imam in der Dorfgemeinde. Als sein Sohn und Nachfolger hatte
Hamed einerseits eine privilegierte Stellung – andererseits wurden aber auch
größere Anforderungen an ihn gestellt als an „normale“ Kinder. So musste er
bereits mit drei Jahren Lesen, Schreiben und Rechnen, und  mit vier Jahren die
ersten Kapitel des Korans auswendig lernen. Den Koran zu lesen und zu
rezitieren war übrigens ein Privileg des Imam und seiner Familie ….
Doch Hamed Abdel-Samads Vater war nicht nur der faire, weise Imam, als der
er nach außen auftrat. Er konnte auch sehr zornig und gewalttätig sein. Und
diesen Zorn bekam vor allem Hamed, aber auch seine Mutter, sehr oft zu spü-
ren -  meist mittels einem Bambusstock, einem beliebten Folterinstrument...
Dennoch achtete Hamed seinen Vater sehr. „Er war mein Idol. Ich ignorierte
seine negativen Eigenschaften und sah nur den fairen, selbstbewussten Imam.
Da ich keine Zeichen von Gott bekam, trat mein Vater an dessen Stelle. Und da
ich nicht wollte, dass unser Vater im Himmel genauso ist wie unser Vater auf
Erden, mache ich meinen Vater dem Vater im Himmel gleich: perfekt und
tadellos. Zornig und unberechenbar waren beide sowieso.“
Denn: „Niemand in unserem Zwanzigtausend Seelen-Dorf konnte die Massen
so begeistern wie er. Keiner wusste so viel über die Menschen, ihre Geheim-
nisse, Ängste, ja sogar Träume. Er war nicht nur der Imam, sondern auch der
Richter, Arzt und Traumdeuter. Für all das liebten ihn die Leute und respek-
tierten ihn, trotz seiner Flucht vom Schlachtfeld, trotz aller Provokationen
meiner Mutter und obwohl er mittlerweile kein Stück Land mehr besaß. Kein
Mensch faszinierte mich so sehr wie er.“ (S.118*)
Welche Macht und unangreifbare Stellung ein Imam in einem moslemischen
Land hat – und dass die islamische Religion vor allem auf blindem Glauben
und bedingungsloser Unterwerfung seitens der Gläubigen beruht -  zeigt auch
diese Beschreibung sehr anschaulich: „Ich kann jenen Freitag nicht vergessen,
an dem Tausende von Menschen sich vor meinem Vater niederwarfen, während
er souverän auf der Kanzel der Moschee stehen blieb und regungslos auf sie
herabschaute. Er hatte in seiner Predigt eine Stelle aus dem Koran zitiert, bei
der sich ein Muslim unverzüglich auf dem Boden vor Gott niederwerfen muss.
Danach befahl er den Gläubigen, Demut im Angesicht Gottes zu zeigen, stieg
aber selbst nicht von der Kanzlei herunter und zeigte in seiner Körpersprache
keine Anzeichen von Demut und Unterwerfung. Diese Szene, die den Höhe-
punkt der Macht meines Vaters darstellte, begeisterte mich und machte mir
zugleich Angst.“ (S.118*)
Angesichts einer solchen Machtstellung ist es eigentlich nicht verwunderlich,
dass Imame dazu verleitet werden, ihre Sonderstellung zu mißbrauchen. Vor
allem wohl auch deshalb, weil sie ja selbst als Kind Unterdrückung, Gewalt und
Lieblosigkeit erfahren  haben … 
Auch Hamed Abdel-Samad war dazu ausersehen, ein solcher Imam zu werden -
doch bereits als Kind hatte er andere Vorstellungen über sein zukünftiges
Leben .... 
 
*)  Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel” .