Hamed Abdel-Samad schreibt über diese dunkle Phase seines Lebens
folgendes:
“Alles wäre gut gegangen, gäbe es nicht die Tiefenpsychologie. Der Therapeut
versuchte in seiner deutschen, emotionslosen, distanzierten Art, meine Kindheits-
erinnerungen durch Hypnose aus mir herauszukitzeln, was meine Aggressionen
noch verschärfte. Das war keine therapeutische Hilfe, sondern Seelenvergewal-
tigung. Und wenn die Seele Gewalt spürt, antwortet sie auch mit Gewalt.
Nach einer intensiven Sitzung mit ihm rannte ich in einer eiskalten Nacht durch die
Straßen von München und versuchte, die Autos zu stoppen, als wollte ich die Zivili-
sation lahmlegen. Die ganze Straße war mir ausgeliefert, und ich verursachte ein
Verkehrschaos.
Ich wurde aufgegriffen und ins Krankenhaus zurückgebracht, habe dort aber
mehrere Pfleger angegriffen. Die Beruhigungsspritzen konnten mich nur für eine
Nacht ruhig stellen. Am nächsten Tag habe ich ein Wasserglas zerbissen und
verschluckt. Mit einem Telefonkabel habe ich versucht, mich zu erhängen.
Wegen aggressiven Verhaltens und akuter Suizidgefahr sollte ich, nachdem man die
Glasscherben durch eine Operation aus meinem Magen herausgeholt hatte, in eine
andere psychiatrische Klinik eingeliefert werden. Ich weigerte mich aber und musste
unter Polizeibegleitung dorthin gebracht werden. Ein Richter beschloss, dass ich
fortan unmündig sei, wegen meiner seelischen und geistigen Behinderung nichts
mehr unterschreiben dürfe und in der geschlossenen Abteilung untergebracht
werden müsse, bis ich keine Gefahr mehr für mich und meine Umgebung darstelle.
Was wusste der Richter über Geist und Seele, um so ein Urteil zu fällen? Aber was
blieb ihm auch übrig? Mit meinem Verhalten hatte ich ihm kein Wahl gelassen. In der
Anstalt verstand kein Mensch mein Problem. Ich wurde in einem fensterlosen
Zimmer eingesperrt, in dem es keine Gegenstände gab, die ich zum Selbstmord
hätte nutzen können. Die starken Psychopharmaka lähmten mich fast ganz. Ein
Medikament namens Haloperidol verursachte bei mir ein totale Gesichtslähmung.
Meine Zunge verdrehte sich im Mund, und ich konnte nicht mehr sprechen. Ich
bekam einfach noch ein Gegenmittel und musste das Medikament weiter einneh-
men. Niemand behandelte mich als Menschen. Ich war für sie ein wildes Tier, das
man ruhigspritzte. Jede Nacht wurde ich ans Bett gefesselt, damit nichts passieren
konnte. Wann immer ich mich weigerte, die Medikamente zu nehmen, wurden sie mir
eingeführt.
In solchen Entsorgungskliniken werden die Menschen weggesperrt, um die schein-
bare deutsche Idylle nicht zu trüben. Die heile Welt will ihren eigenen Müll nicht
sehen. Auch der Chefarzt verstand nicht, dass ich nicht verrückt war, sondern
unerträgliche Schmerzen im Herzen trug. Seine Diagnose lautete schlicht:
Psychose.
Mit dieser Diagnose war nichts mehr an meinem Verhalten normal. Jede meiner
Bewegungen und Gesten wurde falsch interpretiert. Wenn ich lächelte, hieß es, ich
sei manisch, und wenn ich weinte, hieß es, ich sei depressiv. Wochenlang habe ich
den Himmel nicht gesehen und durfte keine frische Luft schnappen. Es gab keine
Fenster. Ich sah nur Neonlicht und kam mit keinem der Mitgefangenen in Kontakt.
Die meisten waren entweder Schwerverbrecher oder akut suizidgefährdet.”