“Meine Beziehung zu Deutschland war eine Art Zwangs- oder Zweckehe. Ein stetig
wachsendes Gefühl der Verunsicherung und der moralischen Desorientierung
machte mir das Leben schwer. Ich war naiv genug zu glauben, allein die westliche
Lebensweise reiche aus, um in Deutschland als Migrant akzeptiert zu werden. Das
Gegenteil war der Fall, und ich wurde immer häufiger wegen meiner Art zu Leben
sowohl von Muslimen als auch von Deutschen verspottet.
Allen voran provozierten mich die Kommentare mancher deutscher Kommilitonen,
wenn sie mich mit Alkohol sahen. Ihre verwunderten Blicke demütigten mich. Ich
wurde immer unruhiger und bekam häufig Wutanfälle, wie ich sie früher nicht ge-
kannt hatte. Der übertriebene Konsum westlicher Genüsse vermochte nicht, mein
Gefühl der Angst und Entwurzelung zu vermindern, sondern steigerte nur meine
Schuldgefühle. Die verbotenen Früchte konnten meinen Hunger nicht stillen, und
das salzige Wasser machte mich mehr und mehr durstig. Trotz allem konnte ich
mich von meiner Kultur nicht lösen. Ich war wie mit einem unsichtbaren Band an
meine Tradition und Wertvorstellungen gebunden. So weit ich mich auch davon
entfernte, ich wurde doch immer wieder mit einem heftigen Ruck zum Ausgangs-
punkt zurückgezogen. Je größer die Entfernung, desto heftiger und schmerzhafter
war der Aufprall bei der Rückkehr. (....) Da zog ich eine weitere Karte im Identitäts-
poker und versteifte mich darauf, allein Deutschland für mein Abkommen vom
rechten Weg verantwortlich zu machen.”
 Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.215 ff.