Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer von Wadi, einem Verband für
Krisenhilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Der 46-Jährige arbeitet seit 20
Jahren im Irak, zuletzt war er im Juni dieses Jahres dort. Außerdem arbeitet er als
Publizist unter anderem für "Welt", "Jungle World" und "The European". Er
schreibt über den Nahen Osten und Nordafrika.
Seine wichtigsten Aussagen in dem Interview vom 5.8.2014:
Gründe für die Entstehung der Terrorgruppe IS:
Nach dem sehr frühzeitigen Abzug der Amerikaner 2010 haben sich die vielen
ungelösten Probleme im Irak zugespitzt. Es leben in dem Land in der Mehrheit
schiitische Araber, die beiden anderen großen Gruppen sind sunnitische Araber im
Nordwesten des Landes und Kurden im Nordosten des Landes.
Der Iran als schiitisches Land hat sehr großen Einfluss auf die gegenwärtige
Regierung von Nuri al-Mailiki. Dadurch wurde die Dominanz der Schiiten
ausgebaut, was in den arabisch-sunnitischen Gebieten für großen Unmut gesorgt
hat. Die Sunniten waren diejenigen, die die Diktatur von Saddam Hussein
besonders gestützt und auch von ihr am meisten profitiert haben.
Als IS im Juni den Nordirak überrollt hat, ist die irakische Armee dort, in Mossul,
auseinandergebrochen. Das lag auch an der verfehlten Politik, schiitische Soldaten
in diese sunnitischen Gebiete fast wie Besatzungstruppen zu schicken. Seitdem
etabliert sich dort diese Terrororganisation und hat dort ein sogenanntes Kalifat
ausgerufen.
Ein Kalifat ausgerufen - was bedeutet das genau?
Von der Osten-Sacken: Die Grundidee aller islamischen Bewegungen - des IS,
aber auch der Muslimbrüder oder der Hamas - ist zum einen, dass es in der
islamischen Welt keine Trennung zwischen Staat und Religion geben soll. Zum
anderen ist die gesamte islamistische Bewegung manisch besessen von der
Vorstellung, dass die Schwächung und letztendlich alle Probleme der Region daher
stammen, dass das Kalifat abgeschafft wurde, das bis 1922 aus Istanbul regierte.
Deshalb soll nun ein neues Kalifat errichtet werden, das die Gesetze des Islam,
also der Scharia, umsetzt und zumindest die ganze islamische Welt unter seine
Regierung bringen muss. Diese Vorstellung bezieht sich stark auf die alten
Kalifate, die es in Damaskus und Bagdad im frühen Mittelalter gegeben hat. Es ist
also eine Rückkehr ins siebte oder achte Jahrhundert - bloß im Zeitalter von
Chemiewaffen und Mobiltelefonen.
Die IS geht mit einer noch nie dagewesenen Brutalität vor
Von der Osten-Sacken: Die Feier von brutalster Gewalt, mit der IS vorgeht, ist
meiner Ansicht nach präzedenzlos, auch in der Geschichte des islamistischen
Terrors. Ein Beispiel: In Mossul sind den IS-Kämpfern 1500 junge irakische
Soldaten in die Hände gefallen. Man geht davon aus, dass diese alle exekutiert
worden sind. Am Ende des Fastenmonats Ramadan wurde ein Video
veröffentlicht, in dem diese Exekution regelrecht gefeiert wird.
Das ist ein hochprofessionell gemachtes Video. Unterlegt mit Koransuren sieht
man diese jungen Männer weinen und um ihr Leben betteln, sie werden auf
Lastwagen verladen und in die Wüste gebracht, wo sie mit Kopfschüssen oder
Maschinengewehrsalven hingerichtet werden.
Ähnliche Videos gibt es von Steinigungen von Frauen, denen man Ehebruch
vorgeworfen hat, oder von Kreuzigungen. Mit Kreuzigungen töten sie besonders
häufig diejenigen Menschen, denen sie Abfall vom "richtigen Glauben" vorwerfen.
Diese Videos haben zum einen den Zweck, die eigene Anhängerschaft zu
vergrößern. Sie dienen aber natürlich auch der Einschüchterung und Abschreckung
der Gegner.
Wer sind die IS-Kämpfer, von wem werden sie unterstützt?
Das Erschreckende ist: viele IS-Kämpfer kommen auch von den
europäischen Ländern und den USA: Von der Osten-Sacken: In den Ländern
selbst haben sie keine breite Unterstützung, dort regieren sie mit Terror. Sie haben
aber international Unterstützung, auch in Europa und den USA. Das sind
besonders junge Männer, die etwa zwischen 17 und 30 Jahre alt sind und relativ
perspektivlos. Sie sind nicht unbedingt arm, aber in ihrem individuellen Leben
vergleichsweise gescheitert. Auf diese Männer hat der radikale Islam eine hohe
Anziehungskraft. Auch aus Deutschland, England, Frankreich und den USA
stammen hunderte junge, muslimische Männer, die nun in Syrien und dem Irak
kämpfen.
Hat die westliche Politik im Irak versagt?
Von der Osten-Sacken: Es gibt ja nicht die eine westliche Strategie für den Irak.
Der Irakkrieg 2003 hat den Westen gespalten in die "Koalition der Willigen" und
die Koalition aus Deutschland und Frankreich in Fundamentalopposition dazu.
Die Demokratisierung des Irakes hat aber danach Fortschritte gemacht. Ich arbeite
seit 20 Jahren im Irak, ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass sich die Lage
dort in den Jahren 2008 bis 2010 dramatisch verbessert hat.
Erst jetzt, nach dem Abzug der Amerikaner, hat sich die Lage wieder
verschlimmert, was aber auch daran liegt, dass man in Syrien nicht interveniert und
den Bürgerkrieg dort völlig aus dem Ruder hat laufen lassen.
Kann der Westen jetzt überhaupt noch etwas tun?
Von der Osten-Sacken: Natürlich müsste der Westen jetzt geschlossen alles
unternehmen, um die Ausbreitung von IS zu stoppen.
Das wichtigste ist also, dass die IS-Kämpfer zurückgedrängt werden. Außerdem
sind in der Region knapp zehn Millionen Menschen auf der Flucht. 9,5 Millionen
von ihnen sind noch in der Region, Europa hat sich regelrecht abgeschottet und
nimmt kaum Flüchtlinge auf. Flüchtlingslager ohne Perspektive sind aber
Radikalisierungsbrutstätten, das wissen wir aus Erfahrung. Die Taliban sind in
Flüchtlingslagern entstanden. Es muss außerdem eine langfristige Perspektive für
die Region geben, eine Art Marshall-Plan.
Was bedeutet die Entwicklung in Syrien und dem Irak für den gesamten
arabischen Raum drei Jahre nach dem "Arabischen Frühling"?
Von der Osten-Sacken: Das ist jetzt ganz klar der Rückschlag. All diese Kräfte -
ob es das Assad-Regime, der Iran oder IS ist - sind sich einig in ihrer panischen
Angst davor, dass die Region sich demokratisieren könnte. All diese Forderungen
nach Demokratie, nach rechts-staatlichen Strukturen, nach Menschenrechten
bedrohen all diese Machthaber in der Region - so zerstritten die Akteure
untereinander auch sein mögen, in diesem Punkt sind sie sich einig.
Diejenigen aber, die in diesen Ländern für etwas anderes stehen und eine
Demokratisierung wollen, haben keine Unterstützung, keine Waffen, können sich
nicht wehren. Damit sind sie die ersten Opfer dieser Entwicklung. Da liegt das
komplette Versagen des Westens: Es gibt keinerlei Strategie, wie man Menschen
helfen kann in Konflikten, die man mit Verhandlungen und netten Gesprächen
nicht lösen kann.
Das gesamte Interview siehe: http://www.tagesschau.de/ausland/interview-osten-sacken-
100.html
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