Gemäß Gisela Schoeller  entspricht die Mumienstarre des Osiris psychologisch
den Zustand der Depression, religiös den einer “Gottesferne”.
Kosmisch bedeutet der durch Gewalt herbeigeführte Tod des Osiris einer
Zerstörung der Schöpfungsordnung und Rückfall ins Chaos. Chaos als Wider-
Ordnung entstand nach Auffassung der Ägypter immer dann, wenn die Menschen
sich zu weit vom Schöpfungs-Ursprung entfernt haben. Neue Ordnung kann
folglich nur durch Rückkehr zu diesem Ursprung wieder hergestellt werden.
Es ist die Liebe der Isis, welche die Trennung vom Ursprung überwindet, der
Osiris zum Opfer gefallen ist. Liebe als eine Ur-Kraft unseres Daseins vermag,
Gegenstrebiges zur Ganzheit auf einer neuen Ebene zu führen, Verborgenes ans
Licht zu locken und Gestalt werden zu lassen.
Während männliche Bewußtwerdung (= die hauptsächlich der Entwicklung des 
Ich-Bewußtseins und des rationalen Verstandes dient) auf dem Weg der Trennung
und Differenzierung erfolgt, geschieht weibliche Bewußtwerdung, wie Isis sie vor-
lebt, auf dem Weg der Sammlung hin zur Liebe, die Trennung überwindet, indem
sie durch ihre Geist-Kraft neues Leben aus der Tiefe hervorruft.
Dabei trägt sie die “Flügel” geistiger Freiheit - nicht, um
in die Höhen des Weltalls wegzufliegen, sondern um die
Erde und Irdisches zu be-geistern, mit Geist zu durchdringen
bis in die Tiefen der Unterwelt, mit denen sie gleichfalls
vertraut ist.
Denn Isis vereint in sich Himmel, Erde und Unterwelt,
und damit zugleich Lichtes und Dunkles.
Darin liegt ein bedeutsamer Hinweis für die menschliche Frau:
solange sie ihre eigenen dunklen Tiefen nicht kennt und annimmt,
kann sie nicht mit den Flügeln ihres Geist-Seins neue schöpferische
Potenz aus männlicher Erstarrung erwecken.
Gerade das ist eine wesentliche Aufgabe, die ihr heute zu-fällt, nachdem männ-
licher Machbarkeitswahn “tote Materie” als seine Spur hinterlasssen hat - sichtbar
in der sterbenden Natur und vielen neuen Krankheiten, die in der Seele zunehmend
auftretende Unlebendigkeit, Antriebslosigkeit, Depression und innere Leere - kann
Neu-Zündung, schöpferisches Potential wohl auch heute nur von der weiblichen
Seite her erfolgen.
Dazu bedarf es der Beziehung und Liebe. Nur so kann das in der Tiefe Abgestor-
bene noch verborgene Ur-Potential ans Licht gelockt werden. Tote Materie
liebevoll umhüllend, vermag Isis das Verborgene zu ent-hüllen und zu entbergen.
Dann kann die unsterbliche Zeugungskraft (= Liebe, Geist) aus ihrem jenseitigen
Wurzelgrund ins Diesseits hineinwirken.  Im Phallus des toten Osiris verdichtet
sich ihr Geheimnis zur reinsten Form und überwindet die Grenze des Todes.
Es fällt auf, dass Isis erst nach dem Tod des Gatten als Handelnde in Erscheinung
tritt. Energetisch betrachtet setzt also die weibliche Energiephase erst nach Auf-
lösung der männlichen ein. Durch intensive Konzentration auf das Wesentliche
erhöht Isis ihr eigenes Energiepotential und lässt es auf Osiris überströmen: es ist
eine energetische Umarmung, wenn sie hinter der Mumie steht und “mit ihren
Flügeln Luft entstehen lässt”, jene gleiche Atemluft, die ursprünglich von Schu
(Gott) ausging. Isis schenkt somit dem Toten jenen göttlichen Lebensodem, der die
Auferstehung im Jenseits bewirkt.
Auf der tiefenpsychologischen Ebene ist diese Auferstehung als “Geburt eines
neuen Menschen” im Sinne einer seelisch-geistigen Wiedergeburt zu verstehen,
nachdem der “alte Mensch” der “Zerstückelung” anheimfiel. Die Stagnation ist
überwunden, die Energie kann wieder fließen. Der Weg dazu kommt einer Ein-
weihung gleich, weil er durch die Tiefen der Unterwelt unserer Seele führt. Und
das “Tageslicht” (= Tagesbewußtsein), das wir nach unserer Rückkehr erblicken,
ist von anderer Qualität als das frühere.
         Quelle: Gisela Schoeller, “Isis - auf der Suche nach dem
                       göttlichen Geheimnis”, 1991, Kösel Verlag