Bis der europäische Faschismus überwunden werden konnte, hat er Europa
ins Elend des Krieges gestürzt und mehrere Millionen Tote gekostet. Er hat
Städte und ganze Landstriche verwüstet, danach wurden aus den alliierten
Siegern, die dieses Ungeheuer besiegt hatten, jahrzehntelang kalte Krieger.
Kann dieser Kelch an der islamischen Welt vorübergehen? Können sich
Modernisierungs- und die Demokratisierungsbestrebungen in den muslimi-
schen Gesellschaften festigen, ohne dass die Bevölkerung in diesen Ländern
den bitteren Preis bezahlen muss, den die westliche Welt einst dafür bezahlt
hat? Kann es ohne Folgen bleiben, dass diese Gesellschaften jahrhundertelang
die Hausaufgaben nicht gemacht haben?“
Hamed Abdel Samad glaubt das eigentlich nicht, weil „das Frustrationspoten-
zial unter jungen Muslimen enorm sei und die wirtschaftliche Entwicklung der
meisten islamischen Staaten nichts Gutes verheißen. „Anders als in China, wo
immer breitere Schichten der Bevölkerung von dem wirtschaftlichen Auf-
schwung und der vorsichtigen Öffnung der Märkte profitieren, verharren die
islamischen Staaten in einer Stagnation. Gleichzeitig würde die Bevölkerung
dieser Länder auch dank des Internets mitbekommen, was in der Welt ge-
schieht. Man protestiert und stürzt vielleicht sogar einen Diktator – doch nach
einer Weile bemerkt man, dass dies weder wirtschaftlich von Nutzen war, noch
sonst irgendeinen Fortschritt gebracht hat. Revolution hin, Umsturz her, alles
bleibt beim Alten. Genau das ist der Nährboden für Fundamentalismus jeg-
licher Art.“ (S.209ff.)
Trotzdem gibt es einen Hoffnungsschimmer. So haben die Entwicklungen in
Ländern wie Ägypten oder Tunesien gezeigt, dass es auch anders geht. Und
auch im Iran zeichnet sich nun anscheinend eine gewisse Öffnung ab …
Und Hamed Abdel Samad weist auch darauf hin, dass es in Zukunft immer
schwieriger für Islamisten werden wird, irgendwo auf der Welt einen “Gottes-
staat” zu errichten: „Der Iran konnte vor 35 Jahren eine islamische Diktatur
gründen und aufrechterhalten, weil er sich im Schatten des Kalten Krieges
verstecken und sich mit Hilfe seines Erdölreichtums eine politische Isolation
leisten konnte. Seit einigen Jahren ist es aber immer schwieriger geworden,
eine solche abgeschottete Diktatur zu halten oder eine neue zu etablieren,
denn die globalisierte Weltwirtschaft und die moderne Kommunikation machen
es für Despoten beinahe unmöglich, ihre Gesellschaften vollkommen abzu-
schneiden von dem, was andernorts oder im eigenen Land vor sich geht.
Cyber-Glasnost findet jenseits der Kontrolle der Machthaber statt. Auch
Diktaturen wie in Nordkorea oder Turkmenistan werden sich davor auf Dauer
nicht verschließen können.“ (S.209)
An einen „Endsieg“ der Muslime glaubt Hamed Abdel-Samad jedenfalls nicht,
vor allem auch deshalb, weil die „Einheit aller Muslime“ eine Illusion sei. So
gibt es viele Glaubensrichtungen und Sekten innerhalb des Islam, die sich
sowohl theologisch als auch politisch nicht vertragen. „Mohamed hat
prophezeit, dass die Muslime sich in 72 Sekten spalten werden, 71 davon
werden einer Irrlehre folgen und in der ewigen Hölle enden. Nur eine wird auf
dem richtigen Pfad wandeln. Diese Gruppe nannte Mohamed „die gerettete
Sekte“. Jede muslimische Glaubensrichtung und jede Sekte hält sich heute für
die auserwählte und gerettete und betrachtet die anderen Muslime als Ungläub-
ige. Hierin liegt der Ursprung des Hasses der Sunniten auf die Schiiten, die
Ahmadiyya, Sufis und Aleviten. Auch innerhalb der Sunniten gibt es viele
Untergruppen, die miteinander nicht zurechtkommen, wie Salafisten und
Muslimbrüder, Hanbaliten, Malikiten, Schafiiten, Hanafiten und Ashaariten.
Sogar Anti-Assad-Dschihadisten in Syrien bekämpfen sich nun gegenseitig.“
Hamed Abdel Samad meint daher, dass die europäische Angst vor einer
Eroberung durch den Islam in gewisser Weise unbegründet ist. Denn wenn
man es genau nimmt, „sind die Muslime mehr mit sich beschäftigt als mit dem
Aufrüsten zu einem Feldzug im Namen Allahs gegen den Westen. Sie sind sich
nicht einmal einig, welche Form des Islam nun die eine wahre ist.“ (S.211ff.)