Mein Appell an das Volk Israels:
Befreit euch, indem ihr Palästina
Erzbischof Emeritus Desmond Tutu ruft in einem
exklusiven Artikel für Haaretz zu einem globalen
Boykott Israels auf und drängt Israelis und Palästi-
nenser, jenseits ihrer Staatsführer nach einer nach-
haltigen Lösung der Krise im Heiligen Land zu suchen.
14. August 2014 | 21:56 Uhr
Ursprünglich auf http://www.haaretz.com/opinion/1.610687 erschienen. Übersetzung
erfolgte durch die Avaaz-Gemeinschaft.
In den vergangenen Wochen erlebten wir beispiellose Handlungen durch
Mitglieder der Zivilgesellschaft rund um den Globus gegen die Ungerechtigkeit
von Israels unverhältnismäßig brutaler Reaktion auf die Raketenabschüsse aus
Palästina.
Zählt man alle Menschen zusammen, die sich am vergangenen Wochenende
versammelt haben, um Gerechtigkeit in Israel und Palästina zu fordern – in
Kapstadt, Washington D.C., New York, Neu-Delhi, London, Dublin und Sydney,
und all den anderen Städten – so war dies sicherlich der größte öffentliche
Aufschrei für ein einzelnes Anliegen in der Geschichte der Menschheit.
Letzten Monat haben 17 EU-Regierungen ihre Bürger gedrängt, keine
Geschäfte mit oder Investitionen in illegale israelische Siedlungen zu tätigen.
Wir wurden kürzlich auch Zeugen des Abzugs zweistelliger Millionenbeträge
aus israelischen Banken durch den niederländischen Rentenfonds PGGM, des
Kapitalabzugs aus G4S durch die Bill and Melinda Gates Foundation und des
Abzugs geschätzter 21 Millionen Dollar aus HP, Motorola Solutions und
Caterpillar durch die presbyterianische Kirche der USA.
Es ist eine Bewegung, die an Fahrt gewinnt.
Gewalt erzeugt Gegengewalt und Hass, was wiederum mehr Gewalt und Hass
erzeugt.
Uns Südafrikanern sind Gewalt und Hass nicht fremd. Wir kennen den
Schmerz, die Außenseiter der Welt zu sein; wenn es scheint, als verstünde
niemand unsere Perspektive oder wäre auch nur willens, zuzuhören. Das sind
unsere Wurzeln.
Wir wissen auch um die Vorteile, die uns der Dialog zwischen unseren
Staatsführern schließlich gebracht hat; als das Verbot angeblich
“terroristischer” Organisationen aufgehoben und ihre Anführer, darunter
Nelson Mandela, aus Haft, Verbannung und Exil entlassen wurden.
Wir wissen, dass sich die Beweggründe für die Gewalt, die unsere Gesellschaft
zerstört hatte, auflösten und verschwanden, als unsere politischen
Führungskräfte miteinander zu sprechen begannen. Terrorakte, die nach
Beginn der Gespräche begangen wurden – wie zum Beispiel Angriffe auf eine
Kirche und eine Kneipe – wurden fast einhellig verurteilt und der Partei, die
man dafür verantwortlich machte, wurde an der Wahlurne die kalte Schulter
gezeigt.
Das Hochgefühl, das unserer ersten gemeinsamen Wahl folgte, war nicht allein
den schwarzen Südafrikanern vorbehalten. Der wahre Triumph unserer fried-
lichen Einigung war, dass sich alle einbezogen fühlten. Und später, als wir eine
Verfassung vorstellten, die so tolerant, mitfühlend und integrativ ist, dass sie
Gott stolz machen würde, fühlten wir uns alle befreit.
Natürlich war es hilfreich, dass wir einen Kader herausragender
Führungspersönlichkeiten hatten.
Was diese Führungspersönlichkeiten jedoch letztlich zusammen an den
Verhandlungstisch zwang, war die Mischung aus überzeugenden, gewaltfreien
Mitteln, die damals eingesetzt worden waren, um Südafrika wirtschaftlich,
akademisch, kulturell und psychologisch zu isolieren.
Ab einem gewissen Zeitpunkt – dem Wendepunkt – realisierte die damalige
Regierung, dass die Kosten für die Aufrechterhaltung der Apartheid den
Nutzen eindeutig überstiegen.
Der Rückzug verantwortungsbewusster multinationaler Konzerne aus dem
Handel mit Südafrika in den 1980ern war schließlich einer der entscheidenden
Hebel, der den Apartheidstaat – ohne Blutvergießen – in die Knie zwang. Diese
Unternehmen sahen ein, dass sie zur Aufrechterhaltung eines ungerechten
Status Quo beitrugen, indem sie zur Wirtschaft Südafrikas beitrugen.
Diejenigen, die weiter mit Israel Handel treiben, die zu einem Gefühl der
“Normalität” in der israelischen Gesellschaft beitragen, tun den Menschen in
Israel und Palästina damit keinen Gefallen. Sie tragen damit nur zum
Fortbestehen eines zutiefst ungerechten Status quo bei.
Diejenigen aber, die dazu beitragen, Israel für eine gewisse Zeit zu isolieren,
sagen damit, dass Israelis und Palästinenser ein gleichwertiges Recht auf
Würde und Frieden haben.
Letztlich werden die Ereignisse der vergangenen Monate im Gazastreifen
testen, wer an den Wert der Menschen glaubt.
Es wird immer deutlicher, dass Politiker und Diplomaten einfach keine
Anworten finden und dass die Verantwortung, eine nachhaltige Lösung für die
Krise im Heiligen Land zu erarbeiten, bei der Zivilgesellschaft und den
Bewohnern Israels und Palästinas selber liegt.
Abgesehen von der jüngsten Verwüstung im Gazastreifen sind anständige
Menschen überall – darunter auch viele in Israel – zutiefst verstört von der
Tatsache, dass täglich die Menschenwürde und die Bewegungsfreiheit der
Palästinenser an Kontrollpunkten und Straßensperren verletzt wird. Und die
Tatsache, dass Israel die illegale Besetzung und die Errichtung von Puffer-
zonen-Siedlungen auf besetztem Land vorantreibt, verschärft die Problematik,
eine zukünftige Einigung zu erarbeiten, die für alle akzeptabel ist.
Der Staat Israel verhält sich, als gäbe es kein Morgen. Seine Bewohner werden
nicht das friedliche und sichere Leben leben, nach dem sie sich sehnen – und
auf das sie Anrecht haben – so lange seine Führung Bedingungen
aufrechterhält, die den Konflikt am Leben erhalten.
Ich habe diejenigen verurteilt, die in Palästina für das Abfeuern von
Geschossen und Raketen auf Israel verantwortlich waren. Sie schüren die
Flammen des Hasses. Ich bin gegen alle Manifestationen der Gewalt.
Aber wir müssen uns absolut darüber im Klaren sein, dass die Palästinenser
jedes Recht haben, für ihre Würde und Freiheit zu kämpfen. Es ist ein Kampf,
der von vielen Menschen auf der Welt unterstützt wird.
Kein von Menschen geschaffenes Problem ist unlösbar, wenn die Menschen
sich mit der ernsthaften Absicht zusammensetzen, es zu überwinden. Frieden
ist immer möglich, wenn die Menschen entschlossen sind, ihn zu erreichen.
Frieden erfordert von den Menschen in Israel und Palästina, sich selbst und
den anderen als menschliche Wesen anzuerkennen, um ihre wechselseitige
Abhängigkeit zu verstehen.
Raketen, Bomben und ungehobelte Schmähungen sind nicht Teil der Lösung.
Es gibt keine militärische Lösung.
Die Lösung könnte wohl eher in dem gewaltlosen Instrumentarium liegen, das
wir in den 1980ern in Südafrika entwickelt haben, um die Regierung von der
Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Politik zu ändern.
Der Grund dafür, dass dieses Instrumentarium – Boykott, Sanktionen und
Kapitalabzug – sich letztendlich als effektiv erwiesen hat, war, dass es eine
kritische Masse an Unterstützung erhielt, sowohl innerhalb als auch außerhalb
des Landes. Die Art von Unterstützung, die wir in den vergangenen Wochen
auf der ganzen Welt in Bezug auf Palästina beobachtet haben.
Mein Appell an die Menschen in Israel ist es, über den Augenblick
hinauszuschauen, über die Wut der andauernden Belagerung
hinauszuschauen, und vielmehr eine Welt zu sehen, in der Israel und Palästina
koexistieren können – eine Welt, in der gegenseitige Würde und Respekt
herrschen.
Es erfordert ein Umdenken. Ein Umdenken mit der Erkenntnis, dass jeder
Versuch, den gegenwärtigen Status quo aufrechtzuerhalten, künftige
Generationen zu Gewalt und Angst verdammt. Ein Umdenken, das damit bricht,
legitime Kritik an der Politik eines Staates als Angriff auf das Judentum zu
verstehen. Ein Umdenken, das zu Hause beginnt und sich über
Gemeinschaften und Länder und Regionen ausbreitet – bis hin zur Diaspora,
die über die Welt, die wir teilen, verstreut ist. Die einzige Welt, die wir teilen.
Menschen, die sich im Streben nach einem gerechten Anliegen zusammentun,
sind nicht aufzuhalten. Gott mischt sich nicht in die Belange der Menschen ein.
Er hofft, dass wir wachsen und lernen, indem wir unsere Schwierigkeiten und
Differenzen selber lösen. Aber Gott schläft nicht. Die jüdischen Schriften sagen
uns, dass Gott vorzüglich auf der Seite der Schwachen und der Vertriebenen
steht, der Witwe, des Waisen und des Fremden, der Sklaven freiließ, damit sie
auszogen in ein gelobtes Land. Es war der Prophet Amos, der sagte wir sollen
Gerechtigkeit wie einen Strom fließen lassen.
Am Ende setzt sich das Gute durch. Das Streben danach, die Menschen in
Palästina von der Demütigung und Verfolgung durch die Politik Israels zu
befreien, ist ein gerechtes Anliegen. Die Menschen in Israel sollten dieses
Anliegen unterstützen.
Von Nelson Mandela stammt der berühmte Ausspruch, die Südafrikaner
würden sich nicht frei fühlen, bis auch die Palästinenser frei sind.
Er hätte ebenfalls hinzufügen können, dass die Befreiung Palästinas auch
Israel befreien wird.
Quelle: https://secure.avaaz.org/de/tutu_to_israelis_free_yourselves/?1408540199
Mehr zu Nelson Mandela siehe “Horoskope”