Quelle: Hamed Abdel-Samad, “Der Untergang de islamischen Welt”,
            Droemer Verlag, 2010, S.25ff.
“Der Logik der Geschichte folgend, hätte die islamische Kultur spätestens
nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in den zwanziger
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Erdoberfläche verschwinden
müssen. Nach der Abschaffung des Kalifats deutete alles darauf hin, dass die
Idee des Gottesstaates durch den des modernen Nationalstaates endgültig
ersetzt würde, so dass alte patriarchalische Herrschaftsmuster keine Chancen
mehr hätten. Doch die Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten im Jahr
1928 und die Entdeckung des Erdöls in Saudi-Arabien kurze Zeit danach reich-
ten offenbar aus, um das Verschwinden des Islam aufzuhalten. Das unerwar-
tete Geld, die Privatisierung des Dschihad und das Florieren des radikalen
Wahhabismus schienen dem politischen Islam einen gewaltigen neuen Schub
gegeben zu haben. Oder sollten diese Ereignisse nichts anderes als die künst-
liche Beatmung eine Kultur gewesen sein, die ihren Zenit längst überschritten
hatte und bereits im Sterbebett lag?
In Ländern wie dem Iran und Ägypten gedeihen sowohl die radikalen Formen
des Islam als auch die Bemühungen junger Menschen, sich von diesen Formen
zu befreien. Die Fronten sind verhärtet wie noch nie, und eine bittere Konfron-
tation ist unausweichlich. Der von Samuel Huntington beschworene „Kampf
der Kulturen“ ist längst Wirklichkeit geworden. Er findet nicht nur zwischen
dem Islam und dem Westen statt, wie viele vermuten, sondern auch innerhalb
der islamischen Welt zwischen Individualisierung und Konformitätsdruck,
zwischen Kontinuität und Innovation.
Eine politische Reform sowie eine Reform des Islam liegen jedoch in weiter
Ferne, da die Bildungssysteme immer noch für Loyalität statt für freies Denken
werben. Mangel an Produktivität und eine wachsende Unzufriedenheit über die
verfahrene politische und wirtschaftliche Situation bescheren den radikalen
Islamisten immer mehr Zulauf. Selbst in den finanziell besser gestellten Golf-
staaten wird gesellschaftliche und politische Öffnung als Einführung der
modernsten Konsumgüter verstanden, nicht als Erneuerung des Denkens.
Besonders in der arabischen Welt muss man sowohl die regionalen als auch
die globalen Perspektiven als bedrohlich empfinden. Eine rapide wachsende
arme, unterdrückte und wenig gebildete Bevölkerung, zur Neige gehende
Erdölvorkommen und drastische klimatische Veränderungen, die große
Anbauflächen vernichten, bedrohen die wirtschaftliche Grundlage dieser
Länder und verschärfen die bereits vorhandenen regionalen und religiösen
Konflikte. Dies kann dazu führen, dass der Staat zunehmend an Einfluss
verliert, was zur Privatisierung der Gewalt führen würde. Die Bürgerkriege in
Afghanistan, Irak, Algerien, Somalia und im Sudan sind nur ein furchtbarer
Anfang dessen. Die geistige und die materielle Erstarrung veranlasst mich zu
der Prognose: Die islamischen Staaten werden zerfallen, der Islam wird als
eine politische und gesellschaftliche Idee, er wird als Kultur untergehen.