Feudalsystem
Libyens Problem sind die mächtigen Stämme
Die libysche Gesellschaft gehorcht den Interessen der Clans. Jetzt ist Gaddafis System
gekaufter Loyalitäten tot. Der Neustart ist Chance und Last zugleich.
Muammar al-Gaddafis Macht war erkauft. Er und sein Clan waren nie das Rückgrat der
libyschen Gesellschaft. Das libysche Feudalsystem funktioniert auf der Grundlage von
Stammesstrukturen. Die Stämme haben wirkliche Macht, weil sich jeder Libyer zuerst seinem
Clan und erst in zweiter Linie der Nation oder dem Befehl eines Herrschers verpflichtet fühlt.
Die libyschen Stammesfürsten bei einer Pressekonferenz im März –
damals hielten viele noch Gaddafi die Stange. Jetzt will jeder auf der
richtigen Seite stehen
Wohl nur so ist es zu erklären, dass Gaddafis von Nepotismus, Korruption, gekaufter ebenso
wie sklavischer Loyalität geprägtes autokratisches System so plötzlich in sich
zusammengefallen ist. Das war sicherlich nicht die Folge plötzlicher militärischer Übermacht der
Rebellen. Es war die Folge erodierender Loyalitäten.
Libyen ist nicht Ägypten oder Tunesien. Das nordafrikanische Land wird von einer vormodernen
Gesellschaft bestimmt, in der es der 69-Jährige in den vergangenen 42 Jahren äußerst
geschickt verstanden hat, ein tragendes, sorgfältig austariertes System zu schaffen. Es erlaubte
ihm, sich an der Macht zu halten.
Al-Gaddafa-Stamm war bis zum Putsch unbedeutend
Die etwa sechseinhalb Millionen Libyer verteilen sich auf rund 140 Stämme und Großfamilien,
von denen etwa 30 mehr oder weniger politisch einflussreich sind. Der Diktator selbst kommt
aus dem Stamm der al-Gaddafa, der zahlenmäßig eher klein und relativ unbedeutend ist.
Das änderte sich, als sich Gaddafi 1969 an die Macht putschte. Damals verhalf der junge
Offizier seinen eigenen Stammesmitgliedern zu einflussreichen Positionen, wodurch der Clan
eine politisch zentrale Position erlangte.
Er vergab auch Schlüsselpositionen an Mitglieder mächtiger Stämme, um sich deren
Unterstützung zu sichern. Letzte Zweifel räumte er aus, indem er einen Gutteil der
Erdöleinnahmen darauf verwendete, den Stammesführern großzügige Geldgeschenke zu
machen, damit die wiederum hier einen Brunnen, dort eine Schule für ihre Untertanen bauen
konnten.
Gaddafi arrangierte sich mit den Stämmen
Geschickt arrangierte sich der Despot mit den Stämmen: Er ließ sie an seinem Machtgefüge
teilhaben, sofern dies seine eigene Alleinherrschaft nicht gefährdete. Und er gewährte materielle
Vorteile, wenn es opportun war.
Ging beides nicht, spielte Gaddafi auf der Klaviatur der Gewalt: Von langjährigen
Gefängnisstrafen bis zur Hinrichtung reichte das Spektrum einer willfährigen Justiz, die einzig
dem Diktum des Führers gehorchte.
Dieses Vorgehen hatte für Gaddafi auch noch den äußerst praktischen Nebeneffekt, jegliche
eventuell aufkommenden Ausgestaltungen einer Zivilgesellschaft oder intellektuellen Szene
über die Jahrzehnte seiner Herrschaft zerstören zu können – ganz im Sinne des eigenen
Machterhaltes.
Einflussreicher Warfalla-Stamm sagte sich schon vor Monaten los
Der Anfang vom Ende Gaddafis war im Februar der Abfall des Warfalla-Stammes, des größten
und einflussreichsten im Westen des Landes. Er zählt rund eine Million Mitglieder. Der Führer
der Warfalla sagte damals: „Wir sagen dem Bruder Gaddafi, dass er nicht mehr unser Bruder
ist."
So einfach und so schnell geht das in einem Land, in dem Allianzen ebenso spontan
geschmiedet wie aufgekündigt werden und einzig dem Wohle eigener Stammesinteressen
gehorchen.
Der Großstamm von Akram al-Warfalli lebt südlich von Tripolis. Geliebt hat er den bizarren
Despoten Gaddafi nie, spätestens seit Oktober 1993 wohl eher offen gehasst: Damals hatten
Armee-Offiziere vor allem des Warfalla-Stammes, aber auch aus den Magariha- und Al-Zintan-
Stämmen versucht, Gaddafi zu töten. Das Attentat misslang, und die Rache des Herrschers war
grausam: Die Anführer des Coups wurden 1997 hingerichtet.
Im Osten Libyens spielt der Misurata-Clan eine wichtige Rolle, der Gaddafi zu Anfang der
libyschen Revolution von der Fahne ging. Das hat damit zu tun, dass die Stämme im Osten,
obwohl mit dem Zugriff auf die größten und wichtigsten Pipelines und Öl-Verladehäfen, seit
jeher von den Fleischtöpfen der Macht in Tripolis ferngehalten wurden.
Scheichs wollen jetzt auf der richtigen Seite stehen
Eine andere wichtige Stütze Gaddafis war lange der Magariha-Stamm mit Hauptsiedlungsgebiet
im westlichen Landesinneren. Den starken Mann dieses Clans, Oberst Abdullah al-Sanussi,
band Gaddafi ein, indem er ihn zu seinem Sicherheitschef machte und ihn mit einer Frau seines
eigenen Stammes verheiratete.
Al-Sanussi soll unter anderem für den Anschlag auf ein Verkehrsflugzeug über dem
schottischen Lockerbie 1988 verantwortlich sein. Auch auf den Al-Suwaya-Stamm im ölreichen
Norden hat Gaddafi schon lange keinen Einfluss mehr. Der „Bruder Führer" hat
abgewirtschaftet.
Manche Stämme haben das früh, andere spät, sein eigener gar nicht erkannt. Die Scheichs
wollen auf der richtigen Seite stehen, wenn Macht und Reichtümer des Landes neu verteilt
werden. Die Herausforderung wird sein, diese Ansprüche mit den berechtigten Forderungen der
Rebellen nach einer modernen politischen Infrastruktur zu vereinbaren.
Autor: Dietrich Alexander,  22.08.2011
Quelle:  Welt online,
            http://www.welt.de/politik/ausland/article13559204/
                Libyens-Problem-sind-die-maechtigen-Staemme.html