“Ich fühlte mich zu einer Diskussionsgruppe hingezogen, die sich im Gemein-
dezentrum in der Nähe meiner Schule traf. Hier waren junge Muslime, die mit
dem intellektuellen Niveau der Madrassahs unzufrieden waren und die wie ich
tieferes religiöses Wissen suchten – sie wollten das Beispiel des Propheten
Mohammed wirklich verstehen, um besser in seine Fußstapfen treten zu
können. Sie hatten das Gefühl, dass der Islam mehr sein sollte als eine
religiöse Pflichterfüllung, die man mehrmals pro Woche vollzog. Sie wollten
sich in eine genauestens festgelegte Lebensweise vertiefen, wollten Leiden-
schaft, ständiges inneres Streben: Islam im Sinne von „Hingabe“.
Eine Gruppe junger Männer aus Pakistan und Somalia organisierte wöchent-
liche islamische Diskussionsrunden in Englisch, um über solche Fragen zu
sprechen. Diese Debatten waren etwas ganz anderes als die Predigten in der
Moschee, wo oft nur alte Texte auf arabisch rezitiert wurden. Die Vortragenden
bei unseren Jugenddebatten redeten über das Verhältnis von Mann und Frau,
Muslimen und Nichtmuslimen, Islam und Christentum. Die Vorträge waren
lebendig und klug und außerdem viel mehr auf unser Leben bezogen als die
Predigten in der Moschee.
Die Zuhörer waren meist intelligente, tiefgläubige ältere Studenten – und
anders als in den Koranschulen, wo die Kinder von den Eltern genötigt wurden
hinzugehen, waren alle freiwillig da. (….)
Wir waren anders als die passiven Gläubigen alter Schule, für die Islam ein
paar Regeln und mehr oder weniger fromm befolgte Rituale bedeutete. Sie
vermischten den Koran mit Stammesgebräuchen und dem magischen Glauben
an Amulette und Geister. Wir waren ein Stoßtrupp Gottes. Der Islam, den wir in
uns aufnahmen, basierte auf dem harten, grundlegenden Glauben der Denker,
die den ursprünglichen Islam des Propheten Mohammed und seiner Schüler
aus dem siebten Jahrhundert wiederbeleben wollten. Wir beabsichtigten,
wieder nach der alten Art und Weise zu leben, und zwar in jeder Hinsicht. Wir
lernten nicht nur einfach einen Text auswendig: Wir diskutierten über seine
Bedeutung und ihre Verwirklichung im Altag.
Wir lasen Hasan al-Banna, der die Gesellschaft der Muslimbrüder als Gegen-
bewegung zum Aufkommen westlicher Ideen in den islamischen Ländern
gegründet und sich für die Rückkehr zum Islam des Propheten eingesetzt
hatte. Wir lasen auch Syyid Qutb, einen anderen Ägypter, der sagte, predigen
sei nicht genug – wir müßten eine Revolution ins Leben rufen und Gottes Reich
auf Erden errichten. Wir begeisterten uns für neue Bewegungen wie Akhwan
(Bruderschaft) und Tauhid (den Rechten Weg), kleine Gruppen, die wie wir aus
wahren Gläubigen bestanden.
Das war der wahre Islam, die Rückkehr zur Reinheit des Propheten. Alle waren
überzeugt, dass es einen weltweiten Kreuzzug zur Auslöschung des Islam gab,
geführt von den Juden und dem gottlosen Westen. Wir mußten den Islam ver-
teidigen und wollten uns dazu am Dschihad beteiligen. Der Begriff Dschihad
hat viele verschiedene Bedeutungen. Er kann aussagen, dass der Glaube finan-
zieller Unterstützung bedarf oder dass etwas zur Bekehrung Ungläubiger unter-
nommen werden sollte. Er kann aber auch Gewalt bedeuten; der gewaltsame
Dschihad ist eine historische Konstante im Islam. (...)
Wie würden wir kämpfen? Einige waren der Meinung, das wichtigste Ziel sei
die Predigt: den Islam bei den Nichtmuslimen zu verbreiten, die passiven
Muslime wachzurütteln und zum wahren, reinen Glauben zu führen. Mehrere
junge Männer verließen die Gruppe, gingen nach Ägypten und wurden dort
Mitglieder der ursprünglichen Muslimbruderschaft. Andere erhielten Stipendien
von verschiedenen durch Saudis finanzierte Gruppen und besuchten Koran-
schulen in Medina in Saudi-Arabien. (...)
Im Debattierzentrum gab es lange Diskussionen über das richtige Verhalten im
Alltag. Es gab so viele Regeln, die bis ins kleinste Detail ausgeführt waren, und
so viele Autoritäten, die sich dazu geäußert hatten. Wahre Muslima sollen ihren
Körper selbst vor einem Blinden verhüllen, auch im eigenen Haus. Sie haben
kein Recht, in der Mitte der Straße zu gehen. Ihnen ist nicht erlaubt, ohne
Erlaubnis aus dem Haus ihres Vaters auszuziehen.
Ich fand es bemerkenswert, dass so viele geachtete muslimische Denker sich
ausführlich mit der Frage beschäftigt hatten, wieviel weibliche Haut sichtbar
sein darf, ohne dass Chaos im Land ausbricht. Natürlich waren sich fast alle
einig, dass ein Mädchen, sobald es die Pupertät erreicht hatte, in Gegenwart
von Männern, die nicht unmittelbar zur Familie gehörten, seinen Körper voll-
ständig bedecken mußte, ausgenommen waren nur Gesicht und Hände. Das
galt auch, wenn es das Haus  verläßt. Denn die nackte Haut würde, selbst wenn
es die Frau nicht beabsichtigte, bei Männern eine unkontrollierbare Raserei
sexueller Erregung auslösen. Allerdings ging die Meinung der muslimischen
Vordenker bei der Frage auseinander, welche Teile des Gesichts und der
Hände so betörend sind, dass sie komplett bedeckt werden müssen.
Manche Gelehrte vertraten die Ansicht, die Augen einer Frau seien die stärkste
Quelle sexueller Provokation: Wenn es im Koran heißt, Frauen sollten den
Blick senken, bedeute das, sie sollten ihre Augen bedecken. Eine andere Denk-
schule kam zu dem Ergebnis, dass der blosse Anblick weiblicher Lippen (vor
allem voller Lippen, die fest und jung waren) einen Mann in sexueller Erregung
versetze, die zu seinem Untergang führen könnte. Wieder eine andere Gruppe
befasste sich über Seiten hinweg mit der sinnlichen Rundung des Kinns, einer
hübschen Nase oder langen, schlanken Fingern und der Neigung mancher
Frauen, ihre Hände so zu bewegen, dass sie die Aufmerksamkeit auf ihre Reize
lenken. Und für jede Vorschrift wurde der Prophet zitiert.” 
Quelle: Ayaan Hirsi Ali, “Mein Leben, meine Freiheit”,
             Piper Verlag, Taschenbuchausgabe 2007, S.156ff.