Der Neokonservatismus, auch Neokonservativismus, (griechisch νέος néos,
deutsch ‚neu‘ und lateinisch conservare ‚erhalten, bewahren‘) ist eine politische
Strömung. Der Begriff bezieht sich vornehmlich auf die Konservativen in den
Vereinigten Staaten, dort spricht man von den Neocons.
Der Neokonservativismus hat sich seit Ende der 1960er Jahre zu seiner heutigen
Gestalt entwickelt....
Die politische Gruppierung der Neokonservativen unterstützt einen rigorosen
Antikommunismus und profilierte sich in den vergangenen 25 Jahren insbesondere
durch die Befürwortung einer interventionistischen Außenpolitik und unilateraler
Hegemonieansprüche.
Zu Beginn des Irakkrieges veröffentlichte Richard Perle am 22. März 2003 im
britischen Spectator einen Artikel unter dem Titel United They Fall, in dem die
Position der Neocons zu internationalen Institutionen und zum internationalen
Recht zum Ausdruck kommt.
Saddam Husseins Terrorherrschaft, so Perle damals, stehe vor einem schnellen
Ende. Er werde aber nicht allein fallen, sondern − in einer Ironie des Abschieds −
auch die Vereinten Nationen mit zu Fall bringen. Es werde nicht die gesamte
UNO, aber die Vorstellung der UN als das Fundament der „Neuen Weltordnung“
sterben:
“[…] in a parting irony he will take the United Nations down with him. Well, not
the whole United Nations. The ‘good works’ part will survive, the low-risk peace-
keeping bureaucracies will remain, the looming chatterbox on the Hudson will
continue to bleat. What will die in Iraq is the fantasy of the United Nations as the
foundation of a new world order.”
In den Ruinen des Iraks seien auch die intellektuellen Trümmer der liberalen Ein-
bildung zu besichtigen, es gäbe Sicherheit durch internationales Recht, adminis-
triert von internationalen Organisationen. Es sei eine „gefährlich falsche“ Idee, nur
der UN-Sicherheitsrat könne die Anwendung von Gewalt legitimieren.
Wirtschafts- und Sozialpolitik
Frühe Neokonservative setzten in bestimmten Bereichen durchaus auf Staatsinter-
ventionismus und vertraten noch in den 1970er Jahren nach europäischen Maß-
stäben beinahe „sozialdemokratische“ Wohlfahrtsstaat-Positionen. Heute jedoch
decken sich (vor allem in jüngster Zeit) die elementaren wirtschafts- und sozial-
politischen Konzepte der Neocons – jedenfalls derer, die in der aktuellen Politik
tatsächlich Einfluss haben – häufig mit jenen neoliberaler Theoretiker und gehen
(insbesondere bei deren Umsetzung in politische Praxis) mitunter noch weit
darüber hinaus.
Theoretiker wie Frank Schulz sprechen von einem „marktgläubigen Status-quo-
Konservatismus“. Steuerkürzungen in großem Umfang – vor allem aber für die
oberen Einkommensschichten gemäß der Trickle-down-Theorie – weitreichende
Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme mit der Teilprivatisierung
des Rentensystems (Einführung von Alterssicherungsfonds) sowie Kürzungen bei
der Gesundheitsversorgung und -vorsorge (die Zahl der US-Amerikaner ohne
Krankenversicherung stieg in der ersten Amtszeit Bushs dem US Census Bureau
zufolge von 39,8 Millionen im Jahr 2000 auf 43,6 Millionen im Jahr 2002) prä-
gen die konkrete Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bush-Regierung.
Kritiker sehen insbesondere in der horrenden Verschuldung der USA gegenüber
dem Ausland eine zunehmende Gefahr auch im Hinblick auf die weitgesteckten
außenpolitischen Ziele. In diesem Zusammenhang wird oft vom imperial over´-
stretch (der imperialen Überdehnung) gesprochen.
Ursprünge und Hintergründe des Neokonservatismus
Die Wurzeln in der „Old Left“ (alten Linken)
Die intellektuellen Gründer des Neokonservativismus, Daniel Bell, Nathan Glazer,
Irving Howe und ihr „Spiritus rector“ Irving Kristol, waren in den 1930er und
1940er Jahren Absolventen des City College of New York, einer Kaderschmiede,
die wegen ihrer harten Aufnahmekriterien bei fehlenden Studiengebühren als
„Harvard des Proletariats“ bezeichnet wurde. Diese Intellektuellen waren großteils
Kinder jüdischer Emigranten aus Ost- und Ostmitteleuropa, einer Bevölkerungs-
gruppe, die oft besonders unter Armut zu leiden hatte. Diese Herkunft machte die
Intellektuellen zugänglich für die neuen und revolutionären Ideen des Sozialismus
und des Kommunismus. Die Weltwirtschaftskrise radikalisierte in den 1930er
Jahren die gesamte US-amerikanische Gesellschaft, so auch die Studentenschaft
des New Yorker City Colleges.
Aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage und dem damit verbundenen sozialen
Elend wurde eine grundlegende Veränderung der Sozialpolitik gefordert und im
sogenannten New Deal auch teilweise erreicht. Dies führte zu einem Staatsinter-
ventionismus, der zu anderer Zeit in der US-amerikanischen Gesellschaft keine
Chance hatte. Dies stärkte die Macht des Staates und insbesondere auch die Macht
der Zentralregierung in Washington.
„Neo-Bindestrich-Nichts“: Die langwierige Geburt und Entwicklung einer
Idee
Aus dem Kreis der linksliberalen und sozialistischen Befürworter des Zweiten
Weltkrieges formierte sich eine Gruppierung von Intellektuellen, die konservative,
sozialistische und liberale Vorstellungen in sich vereinte. Diese Gruppe von kri-
tischen Intellektuellen, oft selbst aus der sog. Arbeiterklasse stammend, bildet den
Kern der so genannten Neokonservativen − auch wenn diese Bezeichnung damals
noch nicht gebräuchlich war. Auf deren divergierende intellektuelle Wurzeln und
ihren demonstrativen Veränderungswillen gewissermaßen in Permanenz (später im
von Dick Cheney nach den Anschlägen auf New York und Washington prokla-
mierten „endlosen Krieg“) geht auch die gelegentlich zu vernehmende Legende –
wohl korrekter: das Missverständnis – vom schneidigen „trotzkistischen Typus“
(Robert Misik) zurück.
Der Urvater der Bewegung mokiert sich:
„Seit ich mich erinnern kann, war ich ein Neo-sonstwas: ein Neo-Marxist, ein Neo-
Trotzkist, ein Neo-Liberaler, ein Neo-Konservativer; in Bezug auf die Religion ein
Neo-Orthodoxer, auch als ich gleichzeitig ein Neo-Trotzkist und Neo-Marxist war.
Ich werde als Neo- enden, sonst nichts – als Neo-Bindestrich-Nichts.“
Aufgrund der neuartigen Verbindung unterschiedlicher Positionen geraten die
Grenzen der politischen Ideologie des Neokonservatismus bisweilen unscharf. Es
lassen sich allerdings durchaus wichtige Haltungen und Einstellungen benennen,
die die Neokonservativen miteinander verbinden.
Diese stammen überwiegend aus den Zeiten des Kalten Krieges, als die Neocons
vielfach noch den Demokraten nahestanden (wie zum Beispiel Jeane Kirkpatrick,
die sozusagen – neben anderen aus dieser Ära – die Brücke vom Reaganism zum
Neo-conservatism verkörperte): staatliche Verantwortung in der Wirtschaft zur
Aufrechterhaltung des sozialen Friedens (eine Forderung, die allerdings weitest-
gehend rhetorisch blieb und spätestens seit Reagan ins schiere Gegenteil kippte),
Wertkonservatismus im Sinne der Erhaltung eines starken Amerikas im Innern und
eine auf nicht konterkarierbare militärische Dominanz setzende Außenpolitik.
Auffallend ist die Dichotomisierung in Gut und Böse, die auch nach dem Ende des
Kalten Krieges das Weltbild der Neocons bestimmt.
Die Abgrenzung von traditionellen Konservativen
Die grundsätzlichen Ansichten und Positionen der Neokonservativen unterlagen in
den vergangenen drei Jahrzehnten mehrmaligem Wandel und gerieten, wie noch zu
zeigen sein wird, oft in vielerlei Aspekten inkonsistent – nicht zuletzt deshalb, weil
zu Vielem gar keine über das Proklamatorische und Deklamatorische hinausrei-
chenden theoretischen Konzepte vorliegen.
“Is there any ‘there’ there?”, fragt sich Irving Kristol selbst noch 2003 in einem
Artikel – was ist das Besondere am Neokonservatismus? Ein Neokonservativer ist
für ihn, den oft so genannten godfather (engl. für Pate) dieses Lagers, „ein von der
Wirklichkeit geläuterter Liberaler“ („a liberal mugged by reality“). Damals hieß es
noch:
„Ein richtig verstandener Wohlfahrtsstaat kann ein integraler Bestandteil einer
konservativen Gesellschaft sein.“ – Irving Kristol
Wirtschaftsethik sei in jeder Zivilisation richtigerweise „durch moralische und
religiöse Tradition definiert, und es ist ein Eingeständnis moralischen Bankrotts zu
behaupten, dass das, was das Gesetz nicht ausdrücklich verbietet, deshalb schon
moralisch erlaubt ist“, schreibt Kristol in den 1980er Jahren.
„Die Menschen brauchen Religion. Sie ist ein Bindemittel moralischer Tradition.
Sie spielt eine entscheidende Rolle. Nichts kann ihre Stelle einnehmen“, betont er
in Two Cheers for Capitalism und spottet über angebliche Ansichten der amerika-
nischen Linken (sogenannte Liberals): „Ein Liberaler ist jemand, der sagt, es sei in
Ordnung, wenn ein 18-jähriges Mädchen in einem Pornofilm mitwirkt, so lange es
den Mindestlohn erhalte.“
In bestimmten Kernfragen trifft sich der Neokonservatismus à la Irving Kristol
durchaus mit Grundüberzeugungen der religiösen Rechten (Theo-Cons):
„Ich glaube nicht, dass über Sittlichkeit auf der privaten Ebene entschieden werden
kann. Ich denke, man braucht öffentliche Führung und öffentliche Unterstützung
für einen moralischen Konsens. Die durchschnittliche Person hat instinktiv zu
wissen, ohne darüber zu viel nachzudenken, wie sie ihre Kinder großzieht. […]
Wenn man Maßstäbe hat, moralische Maßstäbe, dann muss man wollen, dass sie
sich durchsetzen, und man hat letztlich zumindest für sie einzutreten.“
– Irving Kristol: in einem Interview mit dem Reason Magazine im Jahr 1983
Andererseits streicht er in einem Interview 1987 auch die Unterschiede zu den
„alten Konservativen“ heraus: Neo-Konservative seien anders, weil sie „Utilita-
risten, keine Moralisten“ seien, „und weil ihr Ziel die Wohlfahrt der postindus-
triellen Gesellschaft ist, nicht die Wiederbelebung eines Goldenen Zeitalters.“
In seinem Buch Reflections of a NeoConservative (1983) fasst Kristol plakativ
zusammen: „Unsere revolutionäre Botschaft […] ist, dass Menschen mit Selbst-
disziplin eine politische Gemeinschaft schaffen können, in der eine geordnete
Freiheit sowohl den wirtschaftlichen Wohlstand als auch die politische Teilhabe
voranbringt.“
Der Neokonservatismus in den USA grenzt sich auch dadurch dezidiert von
traditionellen Right-Wing-Konservativen (mitunter als Paleo-Cons belächelt) ab,
indem deren (wirtschafts- und außenpolitische) Konzepte des Protektionismus und
Isolationismus – wie sie z. B. der Ex-Republikaner Pat Buchanan vertritt – verwor-
fen werden.
„Konservative Revolution“: Proklamation und Realisation
Die Neokonservativen des Kalten Krieges setzten sich in scharfe Opposition zur
New Left (David Horowitz u. a.), was sie stärker an den traditionellen konservati-
ven Flügel heranrückte. So soll sich etwa Paul Wolfowitz, der sich als Doktorand
noch entschieden gegen eine atomare Aufrüstung Israels ausgesprochen hatte, in
den 1970er Jahren zu jenem „Falken“ entwickelt haben, als der er heute gilt.
Auch der später als Vordenker der Neocons angesehene Yale-Professor Donald
Kagan wandte sich damals von seinen ursprünglich eher linksliberalen Überzeu-
gungen ab. Zwar befürworteten die Neocons in vielen Feldern nach wie vor eine
sozialstaatliche Politik im Inneren, nach außen traten sie jedoch als strikter Gegner
jeder Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und als Verfechter der US-
amerikanischen Vorherrschaft auf.
Diese Verknüpfung von „konservativen“ und „progressiven“ Elementen ist bis
heute das Kennzeichen der sogenannten Neocons, die deshalb gelegentlich auch
als „konservative Revolutionäre“ tituliert werden, wobei dieser Terminus für euro-
päische Beobachter leicht in Missverständnisse münden kann, da dieser Begriff für
die antidemokratische Rechte der Weimarer Republik verwendet wird.
Die Neocons hingegen treten nach eigenem Bekunden als Verfechter von Men-
schenrecht, Demokratie und Freiheit auf. Die Rechtfertigung von Interventionen
und Maßnahmen zum Beispiel, etwa gegenüber sogenannten „Schurkenstaaten“
(Rogue States), fußt meist auf Menschenrechtsargumenten und dem bekundeten
Willen, Demokratie und Freiheit weltweit zu verteidigen und zu verbreiten
(Nation-Building; Demokratisierung, z. B. des Nahen Ostens).
Hegemonie versus Völkerrecht: „Benevolent Imperialism“
Den Neocons wurde und wird freilich nachgesagt, derlei humanitäre Argumente
seien lediglich Vorwände für materiell inspirierte imperiale Bestrebungen; sie
hätten de facto die Monroe-Doktrin − mit der im frühen 19. Jahrhundert Nord-
und Südamerika zur ausschließlichen Interessenssphäre der USA erklärt wurden −
zur Schaffung ihres projektierten „Neuen Roms“ kurzerhand auf den gesamten
Planeten ausgedehnt.
Kritiker werfen den Akteuren in den Vereinigten Staaten insbesondere vor, dass es
ihnen in der politischen Praxis gleichgültig sei, wer welcher „Schurke“ ist − we-
sentlich sei für das Inkrafttreten allfällig angedrohter und mit „moralischen“ Argu-
menten untermauerter bzw. gerechtfertigter Sanktionen, ob der „Schurke“ auf
Seiten der USA stehe oder nicht, eine interessensgeleitete und opportunistische −
manche sagen: zynische − Haltung, die seit den Reaganites als „Kirkpatrick-
Doktrin“ firmiert.
„Massenvernichtungswaffen waren nie der Hauptgrund für den Krieg. Noch
war es die entsetzliche Unterdrückung im Irak. Oder die Gefahr, die Saddam für
seine Nachbarn darstellte. […] Beim Feldzug im Irak geht es darum, Versprechen
gegenüber den Vereinigten Staaten zu halten oder die Konsequenzen zu tragen“, so
Daniel Pipes, Gründer des Middle East Forum (MEF) in Philadelphia, einer Denk-
fabrik, die nach eigenem Bekunden amerikanische Interessen im Nahen Osten „be-
stimmen und fördern“ will.
Der Neocon Pipes, der auch eng mit dem American Enterprise Institute for Public
Policy Research (AEI) kooperiert (er ist Unterzeichner von dessen Grundsatz-
Charta), gilt als kompromissloser Anti-Islamist. Präsident Bush hatte den ausge-
wiesenen Hardliner 2003 gegen den offenen Widerstand des Kongresses in den
Vorstand des U.S. Institute of Peace berufen, dem er bis Januar 2005 angehörte.
Seit dem 11. September 2001 habe auch Präsident Bush gelernt, dass es hart sei,
ein „bescheidener Hegemon“ zu sein. Bush nehme in seinem Kampf gegen den
Terrorismus keine Nation von den „‚wahren und unabänderlichen‘ amerikanischen
Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit aus.“ (Donnelly) „[Bush] sieht die Be-
folgung dieser Prinzipien als eine ‚nicht verhandelbare Forderung‘, die das ‚über-
geordnete Ziel‘ des Krieges darstellt“, konstatiert er unter Anspielung auf Bushs
apodiktische Äußerung (manche Kritiker weisen sie als Ultimatum zurück): „Ent-
weder seid Ihr mit uns oder Ihr seid mit den Terroristen.“ (Thomas Donnelly)
Andererseits betonen die Verfechter des Neokonservatismus selbst, dass die
außenpolitischen Konzepte durchaus nicht auf Lehrsätzen (oder Prinzipien) im
Sinne einer zusammenhängenden Ideologie beruhen, sondern auf ihrer Interpre-
tation geschichtlicher Erfahrungen:
„Es gibt keine Zusammenstellung von neokonservativen Überzeugungen hinsicht-
lich der Außenpolitik, nur eine Reihe von aus der Geschichte abgeleiteten Haltun-
gen dazu. (Der neokonservative Lieblingstext über auswärtige Angelegenheiten ist
– dank Professor Leo Strauss aus Chicago und Donald Kagan aus Yale – der von
Thukydides über den Peloponnesischen Krieg.)“
Und auch Donnelly unterstreicht:
„Was wir genau erschaffen, wissen wir nicht.“
Seit dem 11. September habe die Reagan-Schule die Oberhand: „Wir betrachten
unsere Werte als universelle Werte“, erläutert Donnelly. „Und Amerikaner hatten
in der Geschichte sehr viel Erfolg damit, ihre Werte zu exportieren.“
Als wichtiger Theoretiker für die Neokonservativen gilt der Philosoph Leo
Strauss. Vielfach wird Strauss’ Einfluss dafür verantwortlich gemacht, dass der
Neokonservatismus sehr ausgeprägte Züge des Machiavellismus aufweist.
Insbesondere geht auf Strauss die Idee des „Mythos“ zurück (insbes. Religion und
Nation).
Dieses Konzept ist eng verbunden mit Strauss’ Ansatz, dass das Volk von der Elite
belogen werden müsse. Dies ergibt sich aus Strauss’ tiefem Misstrauen gegen bzw.
seinem Entsetzen über die liberale Gesellschaft. Der politische Mythos sei zwar
nicht wahr, aber eine „notwendige Illusion“.
Notwendig sei dies, weil die individuelle Freiheit die (einfachen) Menschen dazu
verleite, „alles“ in Frage zu stellen, was dann die Gesellschaft insgesamt zerstören
würde. Die Elite müsse diese Lügen öffentlich vertreten und leben, privat müssten
sie diese natürlich nicht glauben. (Strauss wies hier gern auf den TV-Anwalt Perry
Mason als Rollenvorbild hin.)
Albert Wohlstetter – u. a. Paul Wolfowitz’ Doktorvater; Wohlstetters Tochter war
eine Jugendfreundin von Richard Perle – wird mit zahlreichen Protagonisten des
Neokonservativismus in Verbindung gebracht. Der ausgewiesene Bellizist war
schon zu Zeiten der Kubakrise Berater von John F. Kennedy.
Nachhaltige Wirkung sowohl auf Politiker als auch auf Intellektuelle − allerdings
nicht nur neokonservativer Herkunft − hatte der aus Tschechien stammende Josef
Korbel (der Vater der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright).
Zudem ist bei nicht wenigen Wortführern eine intellektuelle Beeinflussung durch
Carl Schmitt – direkt oder vermittelt durch Leo Strauss – anzunehmen. Ein
einigender Grundzug in den Weltanschauungen neokonservativer Vordenker ist u.
a. ein hobbistischer Skeptizismus hinsichtlich der Möglichkeiten friedlicher
Konfliktlösungen und der „Machbarkeit des Guten“. Dieser findet folgerichtig
seine Entsprechung in durchaus machiavellistischen Politikentwürfen, wobei mit
Strauss und Schmitt auch auf die Konzepte Platons zurückgegriffen wird.
Der Streit um das nationale Erbe
Ein regelrechter geistiger Krieg zwischen liberals (hier im Sinne von Progressive,
was in den USA mit „linksorientiert“ gleichgesetzt wird) und conservatives wird
schließlich um das ursprüngliche US-amerikanische intellektuelle Erbe geführt,
insbesondere das der Gründerväter und großen Präsidenten wie George Washin-
gton, Thomas Paine, Thomas Jefferson und Abraham Lincoln, dem Übervater der
Grand Old Party wie auch der Union insgesamt.
Nicht nur bei dieser Gelegenheit beklagen „Linke“ wie „Rechte“ gleichermaßen
das „Gossenniveau“ (so Norman Birnbaum, Professor an der Georgetown Univer-
sity), das die politische Auseinandersetzung in den USA oft weithin kennzeichne.
Birnbaum, der sich selbst für patriotischer hält „als diese Leute“, betrachtet den
Erfolg der Neocons als die Kehrseite der Schwäche der Linken, die dort zum
„korporativistischen Verband degradiert“ sei.
Denkfabriken und Machtapparat
In der Regierung George W. Bushs wurden eine Reihe einflussreicher Politiker
dem Lager der Neokonservativen zugerechnet, darunter neben Perle und Wolfo-
witz: Douglas J. Feith (Verteidigungsministerium), der ehemalige Staatssekretär
im Außenministerium und UN-Botschafter der USA John R. Bolton und Lewis
Libby (Chief of Staff unter Vizepräsident Dick Cheney).
Als ihre „Schaltzentrale“ wird unter anderem das 1943 gegründete AEI genannt,
eine expandierende Denkfabrik in Washingtons Zentrum (einer der Hauptgeld-
geber: die Lynde and Harry Bradley Foundation).
Erheblichen Einfluss hatte auch das im selben Haus wie das AEI ansässige, 2006
aufgelöste Project for the New American Century (PNAC), dem zahlreiche der
Bush-Regierung nahestehende Intellektuelle und Politiker angehörten.
Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer Denkfabriken, so etwa das seit 1921
bestehende Council on Foreign Relations (CFR)