„Als Pakistan nach der Aufteilung von Britisch-Indien im Jahr 1947 zum
unabhängigen muslimischen Staat erklärt worden war, wurden die dort lebenden
Hindus wie mein Vater gezwungen, über die neue Grenze nach Indien auszu-
wandern. Das war keineswegs eine friedliche Migration. Die Muslime wollten ihr
eigenes Land „reinigen“ und taten dies, indem sie Tausende von Hindus töteten.
Mein Vater war damals 18 Jahre alt und wollte so schnell wie möglich weg aus
diesem neuen Land. Um die Straßen zu vermeiden, sprang er auf einen Zug zur
Grenze und saß dann mit Hunderten anderen verängstigten Hindus auf einem
Flachwagen. Irgendwo nahe der Grenze wurde der Zug von bewaffneten Männern
angegriffen, die die Hindu-Passagiere gnadenlose mit Kugeln durchsiebten. Dutz-
ende Menschen starben. Die Glücklichen, zu denen auch mein Vater gehörte, lagen
bewegungslos unter den Leichen, bis der Zug die Grenze passiert hatte.
Der Hass hörte auch nicht auf, als er in Indien angekommen war. Wütende Hindus
auf der anderen Seite der Grenze beschuldigten ihn, ein Muslim zu sein, und wei-
gerten sich, ihm Wasser oder etwas zu essen zu geben. In seiner Verzweiflung zog
er die Hose hinunter und zeigte dem wütenden Mob, dass er nicht beschnitten war.
Weil der Islam verlangt, dass Muslime beschnitten werden, wussten die Hindus
nun, dass er einer von ihnen war. Dann gaben sie ihm glücklicherweise eine ein-
fache Mahlzeit, die er dankbar aß, während er den Eisenbahnwaggons mit den
Toten, die weniger Glück gehabt hatten, den Rücken zukehrte.
Von da an zog er seine Hosen noch oft herunter, um wütende Männer mit Waffen
und diejenigen, die etwas Essbares übrig hatten, davon zu überzeugen, dass er ein
vollwertiger Hindu war. Als er endlich in Neu-Delhi ankam, war mein Vater Dutz-
ende Male gedemütigt worden, und das alles nur, weil eine Religion nicht mit der
anderen zurechtkam.
Ich hatte diese Geschichte schon oft gehört, aber ich hatte noch nie wirklich
nachempfunden, wie sehr Gewalt und Terror den Charakter meines Vaters geprägt
haben mussten. Jetzt schon. Jetzt verstand ich das Bedürfnis meines Vaters nach
Würde und Respekt und begriff, warum er seine Arbeitsuniform so gern trug, auch
an Tagen, an denen er gar nicht im Dienst war. Sein Traum, zu studieren und Arzt
zu werden, war ausgelöscht worden von Massengewalt, religiöser Feindseligkeit,
Hunger, Tod und Missbrauch. Er war heilfroh, am Leben zu sein und einen Job zu
haben.
Aber glücklich war er nicht. Er fühlte sich als Opfer.
Ich erinnere mich an einen Satz, den er oft gesagt hat: „Entweder arbeitest du jetzt
ein paar Jahre lang hart oder du arbeitest dein ganzes Leben lang hart. Du hast die
Wahl.“
Aber in Wirklichkeit hatte er die Wahl für mich getroffen, vielleicht schon an dem
Tag, an dem ich geboren wurde. Ich sah, wie sein Wunsch nach Kontrolle über
sein eigenes Leben sich zu dem entwickelte, was ich als physische und verbale
Tyrannei über mich erlebte.“ (S.60ff.*)