Ein Blindsimultanspiel läuft folgendermaßen ab: Normalerweise ist Schach ein Spiel,
bei dem sich zwei “Gegner” an einem 64-feldrigen Spielbrett gegenübersitzen und
abwechslungsweise ihre Züge ausführen. Doch das Schachgenie aus Amerika, Harry
Nelson Pillsbury, war fähig ohne Anblick des Brettes zu spielen. Sein Gedächtnis
war so phänomenal, dass er “blind” zu spielen vermochte. Er saß entweder entfernt
vom Brett oder am Brett mit verbundenen Augen. Seine Gegner, die natürlich auf das
Brett schauten, waren immer wieder verblüfft zu sehen, wie unwiderstehlich Pills-
burys Züge waren, die er ihnen souverän und schnell in der Schachsprache mitteilte:
Läufer nach e5, Dame schlägt Springer f6, Turm nach g1.
Nicht nur das, Pillsbury war auch fähig, mehrere Partien gleichzeitig (simultan) zu
spielen. Doch das war nicht alles. In spektakulären Shows demonstrierte er seine
außergwöhnlichen Fähigkeiten dem erstaunten Publikum in einem kombinierten
Blindschach- und Whist-Simultanspiel, verbunden mit einer zusätzlichen
Gedächtnisprüfung als Überraschung! Dabei wurde Pillsbury ein Zettel über-
reicht, auf dem bekannte und unbekannte Begriffe wie “Antiphlogistine, perioteum,
takadiastase, plasmon, threlkeld, strptocooccus, staphylococcus, mirococcus,
plasmodium etc.” standen.
Armin Risi beschreibt anschaulich, wie die unglaubliche Vorführung nun weiterging:
“Zwei Psychologen hatten diese Liste zusammengestellt, um Pillsburys Gedächtnis
mit bekannten und unbekannten Begriffen zu verwirren. Dieser jedoch las den Zettel
schnell und gelassen durch, während gedruckte Kopien an das Publikum verteilt wur-
den. Doch der letzte im Publikum hatte den Zettel noch nicht bekommen, als Pills-
bury diese Unsinnsliste weglegte und sie auswendig wiederholte, von oben nach
unten und zum Spaß auch noch gleich von unten nach oben. Offene Münder.
Pillsbury nahm seinen Platz hinter einem leeren Tischchen ein, während seine Geg-
ner in ein paar Metern Distanz an einem langen Tisch saßen, hinter ihren jeweiligen
Schachbrettern. Nacheinander vollzogen sie ihre Züge, die Pillsbury mitgeteilt wur-
den, worauf dieser nach kurzem Nachdenken seinen Gegenzug bekanntgab. Dann
hatte der betreffende Spieler Gelegenheit, so lange seinen nächsten Zug zu über-
legen, bis alle anderen an der Reihe gewesen waren und der Turnus in die nächste
Runde ging. Auf diese Weise absolvierte Pillsbury seine Blindschachpartien und
spielte nebenbei auch Whist (ein Kartenspiel), um die Prüfung noch spannender zu
machen und seinen Gegnern mehr Bedenkzeit einzuräumen. Stunde um Stunde
verging. Er behielt alle Schachpartien im Gedächtnis, machte unbeirrt Zug um Zug
und spielte parallel eine Whist-Partie nach der anderen und rauchte und rauchte.
Nach über acht Stunden war es soweit: Die letzte Partie kam zu Ende. Pillsbury, in
den meisten Partien siegreich, stand lächelnd auf, abgekämpft und aufgedreht, und
wiederholte laut und fehlerfrei nochmals die Unsinnsliste vorwärts und rückwärts.
Bei einer anderen Gelegenheit ließ er sich fünfzig numerierte Zettel mit je einem
Satz geben und zitierte sie dann - nach einmaligen Durchlesen - auf Nummern-
abruf aus sem Gedächtnis.*)
Doch das Schachgenie endete tragisch. Pillsbury starb 33-jährig im Juni 1906 an
einer Art Nervenkrankheit. Sein Foto Gedächtnis wurde zum Fluch: Alles, was er las,
alles, was er hörte, jeden Unsinn, der auf ihn eindrang, konnte er nicht mehr verges-
sen.
Die Schachwelt war erschüttert über das tragische Ende des Genies. Im Nachruf
schrieb Weltmeister Emanuel Lasker: “Er starb an einer Krankheit, die er sich durch
Überanstrengung seiner Gedächtniszellen zuzog ... Er hätte nicht dazu verurteilt sein
dürfen, der Annehmlichkeiten zu entbehren, welche die Arbeit erleichtern und die
Gesundheit erhalten. Statt dessen mußte er schwer arbeiten, mußte er die wertvolle
Masse seines Hirns bei vielen, sechs bis zehn Stunden währenden “Belustigungen”
aufbrauchen, um sich einen kaum ausreichendne Lebensunterhalt zu verdienen.”*)
*) Armin Risi, “Machtwechsel auf der Erde - Der multidimensionale Kosmos,
Band 3”, Govinda Verlag, erste Auflage - Juni 1999, Vorwort