“Miteinander in Großraming”
Karim El-Gawhary schreibt dazu: „Fünf Monate später war also von den wilden
Befürchtungen der Großraminger in Sachen auswärtige Flüchtlinge nichts
eingetroffen. Keine Großramingerin war vergewaltigt worden, kein Dieb war in
die Häuser eingestiegen, kein Schulkind war entführt worden.
Dafür war in dieser Zeit etwas anderes geschehen: Die Großraminger waren
über sich hinausgewachsen. Über 50 Ehrenamtliche zählte inzwischen die im
Dezember 2014 für die Flüchtlingsarbeit gegründete Plattform mit dem Namen
„Miteinander in Großraming“. Einmal die Woche macht das Rentnerpaar
Elisabeth und Herbert Leitner in ihrem alten Laden für Raumausstattung ihr
Begegnungscafé auf. Am Anfang diente das vor allem dazu, sich gegenseitig
kennenzulernen und die Flüchtlinge mit dem Wichtigsten, vor allem zunächst
mit Winterkleidung, zu versorgen. Dort hing auch eine Weltkarte, da konnten
die Flüchtlinge zeigen, wo sie herkommen und über welchen Weg sie geflohen
waren.
Elisabeth mobilisierte dafür zunächst die katholische Frauenbewegung des
Ortes. „Ich habe mir immer überlegt, was ich machen soll, wenn ich in Pension
gehe und wir das Geschäft aufgeben. Ich wollte mich immer irgendwo sozial
einbringen und dachte, vielleicht in Wien, aber dann kam meine neue Aufgabe
direkt vor die Haustür“, meinte sie bei unserem Gespräch enthusiastisch. Ihr
Mann Herbert und sie erlebten jetzt etwas in ihrer Pensionszeit, von dem sie
beide profitieren. „Die Arbeit mit den Flüchtlingen hat unseren Radius enorm
erweitert“, sagte sie . (…)
Beziehung zu den Flüchtlingen
Die Beziehung zu den Flüchtlingen in ihrem Laden sei herzlich, berichtete
Elisabeth und ihre Mitstreiterin bei der katholischen Frauenbewegung, Klaudia
Winkelmayer, als ich mit einem halben Dutzend Mitgliedern der Plattform bei
den Winkelmayers im Frühjahr 2015 am Küchentisch saß. „Wir sind vor allem
für die alleinstehenden männlichen Flüchtlinge so etwas wie der Mama-Ersatz.
Sie weinen sich aus, wenn sie über ihre Frauen und Kinder erzählen. Die
busseln uns manchmal ab und sagen, wir sind jetzt auch ihre Familie“, erzählte
Elisabeth.“ Die beiden Frauen repräsentierten die hemdsärmelige Hilfe für die
Flüchtlinge. Sie hatten sie zunächst mit dem Allernötigsten, vor allem mit der
vom Dorf gespendeten Winterkleidung, eingedeckt.“ (S.161 ff.)
Aber sie waren auch emotional eine wichtige Anlaufstelle. Doch manchmal
waren sie auch überfordert, berichteten sie: „Wir dürfen da nicht aktiv
nachfragen,“ riet die ebenfalls am Küchentisch anwesende Psychotherapeutin
Hemma Hammann. Die anderen nickten.
Das war einer der fruchtbaren Effekte der Plattform: Hier warfen die Groß-
raminger all ihr professionelles und privates Wissen zusammen. „Da werden
die Flüchtlinge gefragt, wie war das, als sie dein Kind erschossen haben, wie
lange hast du gewartet, bis der Arzt kam? Ah, und dann ist es doch gleich
gestorben?“, beschrieb Hemma überspitzt die durchaus verständliche
Großraminger Anteilnahme.
Das mache die Wunden nur tiefer und den Schmerz größer, sagte sie. Die
Flüchtlinge seien noch nicht am Ende ihrer Reise angekommen, und oft
verdrängen sie ihre Geschichten, bis sie sich ganz in Sicherheit fühlten. Das
sei so lange nicht der Fall, bis ihr Asylstatus geklärt sei und sie ihre Familien
bei sich in Sicherheit wüssten, erklärte sie. Das Problem sei, dass sie nicht nur
wegen der Nachfragen in Großraming, sondern auch durch das Asylverfahren
gezwungen seien, ihre furchtbaren Geschichten präsent zu halten.“ (S.163)
Langsame Behörden zermürben Flüchtlinge und Großraminger
Und damit sprach sie ein anderes, großes Problem an, das sowohl den
Flüchtlingen, als auch den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern stark
zusetzte: „Wir arbeiten hier ehrenamtlich und versuchen unser Bestes, aber die
behördlichen Rahmenbedingungen können wir nicht verbessern und das ist für
uns oft frustrierend.“, schilderte Lehrerin Rosemarie Ebmer, die in der Arbeits-
gruppe „Freizeitgestaltung“ für die Flüchtlinge mitarbeitete und die alle Rosi
nennen.
Beim Hauptproblem der Flüchtlinge stehen die Helfer nämlich machtlos da.
Das Wichtigste für alle ist es einen Anhörungstermin beim Amt für Fremden-
wesen und Asyl in Linz zu bekommen.
Das dauert in einem Fall bereits neun Monate. Die meisten warteten bereits seit
einem halben Jahr. Dann dauert es erneut, bis der Bescheid kommt, ob sie
anerkannt werden. Die Langsamkeit der Behörden zermürbt die Flüchtlinge,
weil sie ihre Familien nicht nachholen können und nicht arbeiten dürfen,
solange ihre Asylanträge nicht anerkannt sind. (S.164)