Quelle: Masha Gessen, “Der Mann ohne Gesicht,

            2012 Piper Verlag, S.64ff.

schulpflichtigen Vladimir Putin in einer Kommunalka wohnten, herrschte unter den Kindern

und Jugendlichen oft ein harter Umgangston.  Viktor Borissenko, ein ehemaliger

Klassenkamerad und langjähriger Freund Putins, sagte gegenüber einem Biographen:

„Lauter Schläger. Ungewaschene, unrasierte Kerle mit Zigaretten und Flaschen billigen

Weins. Es wurde andauernd gesoffen, geflucht und geprügelt. Putin war da mittendrin … 

Als wir älter wurden, sahen wir etliche dieser Schläger aus seinem Innenhof wieder. Sie

hatten sich durch das Saufen zugrunde gerichtet. Viele waren im Gefängnis gewesen. Mit

anderen Worten: Sie hatten es nicht geschafft, ein gutes Leben zu führen. Putin, der jünger

war als die Schläger und von schmaler Statur, versuchte trotzdem, sich gegen sie zu

behaupten. „Wenn ihn irgendjemand beleidigte, ging Wolodja sofort auf den Kerl los,

kratzte ihn, biss ihn und riss ihm das Haar büschelweise aus“,  erinnerte sich sein Freund.

Seine Kampfkünste nahm Putin mit in die weiterführende Schule. Ehemalige

Klassenkameraden berichteten zwar immer wieder von Faustkämpfen, doch die folgende

Schilderung bietet einen vielsagenden Schnappschuss vom Temperament des künftigen

Präsidenten: „Der Werklehrer schleifte Putin am Kragen von seinem Klassenzimmer in

unseres. Wir fertigten bei ihm Kehrichtschaufeln an, und Wladimir hatte etwas angestellt …

Er brauchte lange, um sich wieder zu beruhigen. Der Vorgang selbst war interessant. Erst

sah es so aus, als fühlte er sich besser, als wäre alles vorbei. Doch dann brauste er erneut

auf und begann, seinem Ärger Luft zu machen. Das geschah mehrere Male

Die Schule bestrafte Putin, indem sie ihn von den Jungen Pionieren ausschloss – eine

seltene, beinahe exotische Form der Bestrafung und eigentlich jenen Kindern vorbehalten,

die regelmäßig in ihre Schranken gewiesen werden mussten und als hoffnungslose Fälle

galten. Putin war damit ein gezeichneter Junge: Drei Jahre lang war er das einzige Kind in

der gesamten Schule, das kein rotes Tuch um den Hals trug und dadurch die

Mitgliedschaft in der kommunistischen Organisation für Zehn – bis Vierzehnjährige

signalisierte.”