„Putin ist weder ein Diktator, noch ist er machthungrig. Er hat lediglich einen leichten  
Hang zur Misanthropie im Allgemeinen und einen schweren zur Russophobie im Beson-
deren. In seinen relativ jungen Jahren (in der ersten Hälfte der 1980er Jahre) hatte er ein
schreckliches Erlebnis. Als er beruflich in der DDR war, traf er unerwartet auf reale
Deutsche. Und das hat ihn umgeworfen. Ihm wurde auf einmal klar, dass es menschliche
Wesen gibt, die fähig sind, auch ohne den vorgehaltenen Gewehrlauf zu arbeiten, die ein
Ergebnis liefern können, ohne sieben Mal am Tag daran erinnert zu werden, und die sogar
während der Arbeitszeit nüchtern sein können. Diese anthropologsche Entdeckung stürzte
Putin in tiefe Verlegenheit. Und anscheinend kam er zu dem Schluss, dass die Macht
(nicht in Russland, sondern überhaupt) wie auch die Philosophie deutsch sein müssen –
wenn möglich.
Allem Anschein nach denkt Putin ungefähr so. Die Russen sind natürlich gutmütig und
nett, mitleidsfähig und kontemplativ, aber sie eignen sich nicht für eine kontinuierliche,
zielgerichtete Tätigkeit und ein ausgewogenes, friedliches, schöpferisches Leben. (….)
Einem solchen Menschen darf man kein freies Manövriergelänge lassen. Man muss ihm
deutlich einen schmalen Platz zuweisen, ihn vom Raum der Möglichkeiten isolieren und
ihm von Zeit zu Zeit den Rotz mit einem Stofftaschentuch abwischen. Das nennt man
Sozialpolitik, und man darf keinesfalls ein Seidentuch benutzen, sonst wird er
überheblich.“ (Belkowski*, S.104)
Was Putin in Deutschland und am Westen wahrscheinlich am meisten Beeindruckte war
die gewisse „Anständigkeit“, die hier herrschte. Es gab keine Korruption, Menschenrechte
wurden geachtet und auch eingehalten. Deshalb hatte er als junger Präsident den
Schulterschluss mit Amerika und Europa gesucht, um eine enge Partnerschaft
aufzubauen. Doch bald musste er erkennen, dass sein  Entgegenkommen und seine
Offenheit nicht in gleicher Weise erwidert wurde. Daraufhin wurde seine Einstellung
zunehmend anti-amerikanisch und anti-westlich. Und die USA wurden wieder zum
Feindbild Nr.1.
Belkowski beschreibt das Verhältnis von Putin zum Westen folgendermaßen:
„Putin meinte, dass die Vertreter stabiler politischer Systeme und Institutionen, die schon
lange ohne einschneidende Katastrophen auskommen, wie es die russischen Revo-
lutionen und Perestroikas gewesen waren, die so gut riechen und erlesene Krawatten
tragen, dass diese Vertreter Anständigkeit wie ein Gebot achten, weil sie über ein ent-
sprechendes Gen verfügen. Die Geschichte zeigte dann, wie rührend Putins Irrtum war. 
(...)
2000/2001 versenkte Russland die Raumfahrtstation Mir und schloss die Radar-
aufklärungsstation auf Kuba und Vietnam. Jelzin hatte sich nicht dazu entschließen
können, und das nicht nur aufgrund seines Legitimitätsmangels im eigenen Land.
Am 11.9.2011 war Putin der Erste (!), der den USA und Präsident Bush Junior sein Beileid
hinsichtlich der Tragödie ausdrückte und seine Hilfe anbot. Als die USA beschlossen, dass
an allem die afghanischen Taliban schuld seien (was bis heute nicht bewiesen ist!), die
Osama bin Laden und El Kaida in Höhlen versteckten, öffnete Russland den Amerikanern
voll und ganz den Korridor nach Afghanistan.
Es hatte den Anschein, als könne Putin mit seinen westlichen Kollegen eine gemeinsame
und allgemein gebräuchliche Sprache finden, eine Sprache normaler Interessen, auch
wenn die westlichen Politiker qua Geburt, Bildung und Erziehung cooler waren als er.
Daran lag es nicht. Die Politik, besonders die internationale Politik, zwingt einen
manchmal, das Wort „Anständigkeit“ zu vergessen.
Der erste Riss entstand 2003. Putin konnte drei Dinge beim besten Willen nicht verstehen:
-
Warum der Irak unbedingt Prügel beziehen musste, wenn es keinerlei Beweise für
die Beteiligung Saddam Husseins an der Produktion von
Massenvernichtungswaffen gab;
-
Warum man demonstrativ die Position nicht nur von Russland – na gut, wir sind die
Kleinen - , sondern auch von Frankreich und Deutschland ignorierte;
-
Warum man sich nicht menschlich aufführen konnte und über den UNO-
Sicherheitsrat agierte, statt gleich die Füße auf den Tisch zu legen.
Putin hatte also auf einmal die amerikanische politische Moral durchschaut: Russland &
Co. sollten den USA alles geben, was sie hatten, doch was ihnen die USA gaben, war
situationsabhängig, hing also davon ab, mit welchem Bein sie gerade aufgestanden
waren.
Von diesem Moment fing unser „normaler Kerl“ an, sein Vorgehen ein wenig zu
korrigieren. Nein, im Kern konnte er strategisch nichts verändern. Denn Putins Ziel war
und blieb die Anerkennung Russlands, der russischen Elite und seiner selbst im Westen.
Wenn also der moderne, erfolgreiche Russe nicht in Europa oder Amerika leben, arbeiten
und Urlaub machen kann und seine Kinder dort nicht studieren dürfen, dann ist Putin
gescheitert, vor allem als Mensch. Hinter den kilometerlangen Zäunen der soliden
Datschas in geschützten Moskauer Vororten leben nur die kriminellen Anführer, die über
das FBI gesucht werden oder aus einem anderen Grund keine Einreiseerlaubnis in alle
westlichen  Länder haben. Keiner kann besser als sie vom russischen Patriotismus
erzählen und wie sie den Westen verachten. Aber nur sie, bitteschön.
Das heißt, strategisch war, ist und bleibt Putin ein Westler. Was aber seine Taktik
anbelangt, tauchten neue Fragen, Zweifel und Bedenken auf. Diese Zweifel wurden durch
die sogenannte „Blumenrevolutionen“ im postsowjetischen Raum auf die Spitze getrieben.
Die „Rosenrervolution“ in Georgien (2003) hatte Russland noch übersehen. (…)
Doch dann ging es auch in der Ukraine los, und das war für WWP weitaus wichtiger, und
zwar nicht nur weil es bereits Absprachen im wirtschaftlichen Bereich gab, zum Beispiel
über die für Gazprom  und andere russische Erdgasförderer lebenswichtige Übergabe des
ukrainischen Pipelinesystems in einen Modus indirekter Kontrolle durch russische
Wirtschaftsagenten, sondern auch aus persönlichen Gründen. (…)
Hunderttausende gingen auf die Straße von Kiew, vor allem auf den zentralen Platz der
Unabhängigkeit. Eine Revolution! (…) Putin glaubte jedoch nicht an die Zufälligkeit oder
Spontaneität einer Revolution oder daran, dass alles von selbst geschieht unter dem
Druck der erniedrigten, gebildeten Bürgerschaft. Sein Bewusstsein ist genauso
konspirativ, wie es sich für einen (wenn auch glücklosen) Zögling der Geheimdienste
ziemt, egal, um welche Geheimdienste es sich handelt. Wenn es eine Revolution gibt,
dann muss eine dominante Macht dahinterstehen. Und eine solche Macht gibt es in der
Welt heute nur eine – die USA. Man hatte ihn also erneut betrogen.“ (Belkowski*, S.195 ff.)
Daraufhin wurde Putin zum antiwestlichen Politiker. Der Kreml entwickelte die Idee der
„souveränen Demokratie“, die im Grunde besagt, Russland wisse selbst am besten, was
es unter Demokratie verstehe, und verbiete sich deshalb jede Kritik von außen.
Im Februar 2007 rechnete Putin auf de Münchner Sicherheitskonferenz mit dem Westen
ab. In seiner Rede, die später als „Brandrede“ gewertet wurde, sagte er unter anderem:
„Heute beobachten wir eine beinahe unkontrolliert ausufernde Anwendung von Gewalt in
internationalen Beziehungen – von militärischer Gewalt.“ Das Völkerrecht werde mehr und
mehr missachtet. Es herrsche das Recht eines einzigen Staates. „Die Vereinigten Staaten
haben ihre nationalen Grenzen in fast allen Bereichen übertreten.“ Seine Schlußfolgerung
war: „Wir sind an einem Wendepunkt angelangt, wo man ernsthaft über die gesamte
globale Sicherheitsarchitektur nachdenken muss.“ (Albrecht**, S.157) 
Im Folgenden verschlechterten sich erheblich die Beziehung von Russland zur USA und
dem Westen.
„Doch Putin als Verkörperung der lebenswichtigen Interessen der russischen Elite muss
das tun, was er tun muss: mit dem Westen befreundet bleiben und sich mit ihm
versöhnen.
Zur Rettung der Situation wurde 2008 der Nachfolger Dmitri Medwedew entsandt. Er
sorgte für einen „Neustart“, der, egal, was verschiedene Widersacher behaupten, nicht
ganz erfolglos war.
Doch dann kam es wieder hart auf hart. 2011 kündigte sich eine weitere Revolution an,
diesmal der „arabische Frühling“, und wieder bekam Putin die knochige Hand des
Weltgendarms zu spüren (….).
In dieser Situation musste Dmitri Medwedew abberufen werden und Putin auf den
Präsidentenposten zurückkehren. Denn im Falle der Fälle (wenn also der arabische
Frühling ein wenig slawische Züge angenommen hätte), wäre Dmitri Medwedew mit der
Situation nicht klargekommen.“ (Belkowski*, S.200)
       *) Stanislaw Belkowski, “Wladimir - Die ganze Wahrheit über Putin”,
             ´         Redline Verlag, 2014
       **) Erik Albrecht, “Putin und sein Präsident - Russland unter Medwedew”,
                      Orell Füssli Verlag, 2011