Hamed Abdel-Samad schreibt dazu:
“Die moralische Desorientierung junger Muslime mündet oft in Radikali-
sierung. Vier ehemalige Freunde von mir sind mittlerweile konservative
Muslime geworden, die keiner Frau die Hand reichen – obwohl sie früher an
Touristen in den Hotelanlagen Alkohol ausgeschenkt hatten. Einer davon
hält sogar Terroranschläge gegen Touristen für gerechtfertigt, denn diese
würden nicht nur die Umwelt, sondern auch den Glauben der Muslime zer-
stören. Die Anschläge von Luxor, Bali und Djerba zeigen, dass radikale
Islamisten die Touristen als Kreuzfahrer ansehen.
Die Regierungen in den islamischen Ländern kümmern sich kaum darum.
Man lässt nach wie vor den Spagat zu, die Westler im Bewusstsein der
Muslime als Feinde einzupflanzen und sie gleichzeitig im Namen der
arabischen Großzügigkeit als Touristen einzuladen. Es werden keine
Konzepte gegen Wasserknappheit entwickelt, die die gesamte Region in
bittere Bruderkriege stürzen könnte. Es gibt keinen Plan für das Leben nach
dem Tourismus oder nach dem Erdöl.” (S.72 ff.)
Weiters: “Die Begeisterung für die westliche Lebensform und der heftige
Zuspruch zu modernen Konsumgütern bei gleichzeitiger religiös-ideo-
logischer Indoktrinierung und einer Isolation vom Geist der Zeit schafft die
explosive Mischung, die den Terrorismus beflügelt und die ich als Haupt-
grund für den Untergang der islamischen Welt sehe. Diejenigen Menschen,
die vor der Idee der „Verseuchung“ ihrer „wahren kulturellen Identität“
zurückschrecken oder die unfähig sind, mit fremden Werten zurechtzu-
kommen, tendieren zu einem Rückzug in die Isolation.
Die Konfrontation mit dem europäischen Alltag nimmt rapide ab und die
Kräfte der Anpassung schwinden zunehmend. Die innere Spannung bleibt
jedoch dieselbe. Menschen, die in diese Enge geraten, sind unfähig, den
zunehmenden Druck und die Erwartungen an ihre Person zu reduzieren oder
gar zu vermeiden. Sie ziehen es vor, die Konflikte, die sie zerreißen, auf die
Welt um sich herum zu projizieren.
Ein konstruierter, imaginärer Islam unterstützt sie mit einer „wütenden
Antwort“ auf ihre soziale Lage, wie er ihnen auch die geopolitischen
Konflikte erklärt, die sie für ihre Situation verantwortlich machen. Wie diese
„wütende Antworten“ aussehen können, ist an den Attacken auf New York,
Madrid und London deutlich abzulesen.
Aber die terroristischen Anschläge von Luxor, Bali, Istanbul, Dar El-Salam,
Kairo, Djirba, Karatschi, Bagdad und Kabul zeigen, dass diese Wut auch die
islamischen Gesellschaften von innen zerreißt. Man darf nicht vergessen,
dass bei über vierzehntausend von Islamisten verübten Terroranschlägen in
den letzten Jahren die große Mehrzahl der Opfer Muslime waren.” (S.207ff.)