“Mohamed starb und hinterließ den Muslimen den Koran und Zigtausende
Hadithe, die Anweisungen für alle Lebensbereiche enthielten, sogar darüber,
wie ein Muslim sich gottgefällig auf der Toilette benehmen sollte. Doch was er
vergessen hatte, war, ihnen mitzuteilen, wer die Herrschaft nach ihm über-
nehmen solle und welche Legitimation er für die Macht benötige. Dies führte
wenige Jahre nach seinem Tod zu einer heftigen Auseinandersetzung und zu
Bürgerkriegen unter Muslimen, die mit der Spaltung der Gemeinde in Schia
und Sunna endete.
Unter dem traumatischen Eindruck dieser Spaltung ist der sunnitische Islam
paranoid geworden und entwickelte eine herrscherfreundliche Ideologie, um
Bürgerkriege in der Zukunft zu vermeiden. Diese Ideologie ging so weit, es als
Pflicht jedes Muslims vorzuschreiben, dem Herrscher gehorsam zu sein, egal
ob er unmoralisch oder ungerecht ist. (…)
Im kollektiven Gedächtnis der Iraner und in der Poesie scheint Altpersien
immer noch zu leben. In den sunnitischen Staaten dagegen schaffte es der
Islam, die vorislamische Periode als Zeit der Dschahiliya, der Dunkelheit und
Unwissenheit, hinter sich zu lassen. Nach der Konvertierung zum Islam
übernahmen die Perser zwar die arabische Schrift, behielten aber die eigene
Sprache, was ihnen sowohl einen Zugang zur eigenen Geschichte als auch
zum Arabischen als Sprache der Wissenschaft im Mittelalter verschaffte. Die
ersten Werke, die Perser schrieben, nachdem sie den Islam angenommen
hatten, waren Zarathustra-Schriften und das epische Buch Shahnama, das die
Geschichte alter persischer Könige festhält. Die kulturelle Eigenständigkeit der
Perser schützte sie vor einer Vereinnahmung durch die arabische Sippenkultur
und garantierte eine historische Kontinuität, die im Nahen Osten und vielleicht
sogar weltweit einmalig ist. Die Iraner haben ebenfalls eine starke Bindung an
die islamische Mystik, die einzige Richtung, die das Hadern mit Gott zulässt.
Andererseits deuten die Mystiker die Dinge der Welt so lange um, bis sie
wiederum bei Gott angekommen sind, wie der Iranist Bert Fragner hervorhebt.
Mystische Dichter wie Rumi und Hafez genießen im Iran fast die gleiche
Stellung wie Mohamed. (….)
Ein wesentlicher gesellschaftlicher Unterschied zwischen dem Iran und den
meisten anderen islamischen Staaten liegt darin, dass im heutigen Iran die
Bildung von Frauen fortgeschrittener ist. Eine zivile Gesellschaft und ein
ausgeprägtes Öffentlichkeitsbewusstsein unter den Iranern sieht Bert Fragner
als gute Voraussetzung für eine Modernisierung. Auch die Rolle der Literatur
und der Philosophie in der iranischen Gesellschaft ist nicht zu übersehen.
Dieses schafft eine Parallelsprache zur Sprache der Autorität und setzt die
Theologie unter Druck, um mitzuziehen. (…)
Kein Wunder, dass die Theologie in Iran viel weiter ist als in den sunnitischen
Staaten. Im Jahr 2004 traf ich bei einer Konferenz in Heidelberg den iranischen
Theologen Abdulkarim Soroush, der zwischen der Religion einerseits und dem
Verständnis von Religion andererseit unterscheidet. Das Wissen über Religion
ist laut Soroush nicht heilig und deshalb wie jedes weltliche Wissen nicht nur
kritisier-, sondern auch austauschbar. Nur in einer Demokratie gibt es echte
Religiosität, denn Glauben ohne Freiheit ist kein Glauben, so Soroush.
Bemerkenswert ist, dass Soroush einer der Vordenker der iranischen
Revolution von 1979 war. Heute geht er einen völlig anderen Weg als das
Mullah-Regime in Teheran.
Sicher gibt es auch viele Theologen im Iran, die nicht nur buchstabentreu sind,
sondern auch merkwürdige Gutachten geben, wie etwa ein gewisser Kassem
Sidighi, der die Sünden unmoralischer Frauen für Erdbeben verantwortlich
machte.
Wie dem auch sei, in beiden Fällen bleibt die schiitische Theologie in den
sunnitischen Staaten nicht akzeptiert, werden die Schiiten, die nur zehn
Prozent der Muslime ausmachen, in den Augen der Sunniten als Abtrünnige
oder zumindest als nicht genuin islamisch angesehen.
Eine wichtige Rolle für den Unterschied zwischen schiitischer und sunnitischer
Realität spielen auch die Exiliraner in Europa und den USA. Im Gegensatz zu
den Sunniten sind sie im Westen nicht mit der Größe einer Moschee oder dem
Erektionswinkel eines Minaretts beschäftigt und verstecken sich nicht hinter
der Mauer der importierten Identität, sondern unterstützen die Demonstranten
in ihrem Land sowohl finanziell als auch medial. Gleichzeitig schaffen sie es,
dass das Thema Iran immer im Bewusstsein der westlichen Medien bleibt.
Allein das Interesse des Westens an einem Regimesturz in Teheran macht
vielen Iranern Hoffnung, dass zumindest von außen der Prozess der
Veränderung nicht gebremst wird, zumindest nicht vom Westen.