„Treffsicherheit“ von sozialen Leistungen
Die neue Schwarz/Blaue-Regierung will nun wieder – so wie unter der ÖVP/
FPÖ- Regierung unter Schüssel Anfang der 2000er Jahre -  die „Treffsicher-
heit“ von Sozialleistungen erhöhen.  Eine solche Politik führt aber, warnen die
Sozialexperten Martin Schenk und Martin Schriebl-Rümmele, im Endeffekt zu
Sozialabbau, zu Kürzungen „ganz unten“ und zu stärkeren sozialen Spaltun-
gen.
Denn: „Je stärker die Leistungen auf die Armen konzentriert werden, desto
unwahrscheinlicher wird eine Reduktion von Armut und Ungleichheit“, be-
legen einhellig Studien der Sozialwissenschaftler Walter Korpi und Joakim
Palme oder des Ökonomen Michael Förster von der OECD:
„Jene Staaten, deren Nettotransfersystem am ehesten als targeted bezeichnet
werden kann, sind nicht diejenigen, welche Armut am effektivsten vermindern
– eher im Gegenteil. Ein wichtiges Element bleibt die Höhe der Sozialquote
sowie die progressive Verteilungswirkung des Steuersystems.
Poor services für poor people: Öffentliche, schlechte, traditionelle Schulen für
die Einkommensschwachen, private, gute reformpädagogische Schulen für
die Wohlhabenden. Staatliche, miese Gesundheitsversorgung für die Ärmeren;
private, engagierte Vorsorge für die Reicheren.
Nur allzu schnell verselbständigt sich der Trend weg von universellen, sozi-
alen Bürgerrechten hin zur selektiven, almosenhaften Armenfürsorge.  Der
Vergleich mit einer Zielscheibe sieht den Leistungsbezieher in keiner Weise
als aktive Person, die für sich selbst sorgt, handelt und tätig ist“, erklärt der 
Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. „Das Bild verweist eher auf einen
Almosenempfänger.“ Die Treffsicherheitsdebatte samt ihrem beherrschenden
Maß der Bedürftigkeit verwandelt Bürger/innen mit sozialen Rechten in
bittstellende Untertanen.“ (S.71ff.*)
So weisen Schenk u.Schriebl-Rümmele in ihrem Buch darauf hin, dass die-
jenigen Staaten, deren Sozialsystem sich in erster Linie an „Treffsicherheit“
orientieren, wie England oder die USA, die höchsten Armutsquoten und hohe
soziale Ungleichheit haben.
Staaten mit Absicherung sozialer Risiken für eine breitere Bevölkerung weisen
hingegen geringere Armut auf.
Die Phasen des Sozialabbaues durch „Treffsicherheit“ kann man am
Beispiel des britischen Gesundheitssystems verfolgen: „Zuerst wendet sich
die einkommensstarke, junge und gesunde Klientel den privaten Anbietern zu.
Diese werden durch entsprechend attraktive Angebote und aufwendiges Mar-
keting alles tun, sich ihrererseits die „Filetstücke“ des Marktes zu sichern.
Mit dem geringeren Marktanteil sinkt in einer zweiten Phase die wirtschaftliche
Kraft der öffentlichen Anbieter und damit die Qualität ihres Angebots. Schließ-
lich liefert die schlechte Qualität der öffentlichen Anbieter den Grund, sie ent-
weder ebenfalls zu privatisieren, ober sie als minimale Rumpfversorgung für
die einkommensschwächeren Gruppen bestehen zu lassen.“ (S.72*)
Der Ökonom Gerhard Wohlfahrt weist außerdem darauf hin, dass Studien be-
legen, dass „bei einer Konzentration der Ressourcen auf die Armen der poli-
tische Konsens zur Bereitstellung der nötigen Mittel verlorengeht, weil breite
Schichten von den Leistungen ausgeschlossen werden. Deshalb kann Armut
trotz „treffsicherer“ Maßnahmen, die nur den wirklich Armen zu Gute kommen,
nicht erfolgreich verhindert werden. Und da dadurch die mitteleren Einkom-
mensschichten auch von den Transfers ausgeschlossen werden, verlieren
diese an Einkommen, und die Verteilung wird noch ungleicher. 
Durch die Einbindung der „Reichen“ wird die Bereitschaft, das Sozialsystem
zu finanzieren, erhöht. Zu befürchten ist, dass die aufstiegsmobilen Mittel-
schichten, wenn sie einzahlen, aber nichts herausbekommen, sich vom so-
zialen Ausgleich überhaupt verabschieden.
In der Bedürftigkeitsfalle verlieren Sozialprogramme leicht die gesellschaft-
liche Unterstützung. In den USA wurde die Unterstützung für Familien mit
Kindern, die in Armut leben, abgeschafft. Das Programm war zu hundert
Prozent zielgerichtet und genießt trotzdem – oder gerade deswegen -  keine
politische und gesellschaftliche Unterstützung.
„Sozialprogramme und Einkommensprüfung verlieren mit die politische Unter-
stützung der dadurch ausgeschlossenen Medianwähler, das heißt der mitt-
leren  und meinungsbildenden oberen Einkommensschichten“, argumentiert
auch der ehemalige Direktor des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik
und Sozialforschung, Bernd Marin. „Hundert Prozent Zielgenauigkeit für sozial
Schwächere kann zu völligem Legitimitätsverlsut sozialen Ausgleichs bei allen
anderen Schichten und damit zu einer politisch ruinösen wirtschaftlichen
Treffsicherheit führen.“
Immer mehr Menschen werden über unwürdige und entwürdigende Arbeit in
den Arbeitsmarkt integriert“, analysiert Klaus Dörre, Professor an der Uni-
versität Jena. Der renommierte Soziologe warnt vor den Konsequenzen. Die
Durchlöcherung des unteren sozialen Netzes führt zu einer Abwärtsspirale, die
schwierige soziale Situationen verschärft und verlängert. Besonders für die
untere Mittelschicht.
Zudem erhöhte es die Zahl der Personen im letzten Netz massiv: Um rund
160.000 Menschen würde die Einkommensarmut in Österreich steigen.
Die Abschaffung der Notstandshilfe würde auch einen Anstieg der
Altersarmut – keine Pensionsversicherung mehr – mit sich bringen.
Deutschland hatte in den vergangenen zehn Jahren den raschest  wach-
senden Niedriglohnsektor Europas. Der dadurch geschaffene Niedriglohn-
markt übte starken Druck auf die gesamte Lohnentwicklung aus.
Die Konsequenz: Die Löhne steigen nicht angemessen und bleiben weit unter
der Produktiviätt und Inflation. Das hat dazu geführt, dass sich immer weniger
Menschen das Leben leisten können. Die Mehrzahl der Leute im Niedriglohn-
sektor in Deutschland verfügt übrigens entgegen aller Vorurteile über eine
abgeschlossene Berufsausbildung.
Ein weiteres Märchen entlarvt Dörre in seinen Studien: Prekäre Beschäftigung
ist kein Sprungbrett in den sogenannten “ersten Arbeitsmarkt”. Nur zwölf
Prozent steigen in bessere Arbeitsverhältnisse um. Man fällt schnell hinein
und kommt umso schwerer wieder heraus. Es entstehen vielmehr Drehtür-
effekte, „zirkulare Mobilität“ vom schlechten Job zum schlechten Job.
Hartz IV führt dazu, dass soziale Unsicherheit bis weit in die unteren Mittel-
schichten getrieben wird und sich Gegenwart und Zukunft für Hunderttausend
verbauen. Reformen wären sinnvoll, wenn sie versuchen würden, die Existenz
und Chancen zu sichern, aber nicht Menschen in den Abgrund zu treiben.
Die Daten weisen auf ein zentrales Problem hin: „Wer rund um Hartz IV ver-
dient, ist gesellschaftlich nicht mehr respektiert“. Prekarität hat „die Schwelle
der Respektabilität verändert“ und „den Druck auf die Leute erhöht“.
 Hartz IV ist die Verschiebung der Schwelle der Respektabilität nach unten. Die
Betroffenen werden gesellschaftlich missachtet. Hartz IV ist ein Hamsterrad,
das Leute unter der Sphäre der Anerkennung hält.  Die Prekaritäts-Logik ver-
langt jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die moti-
vieren und zu Engagement befähigen.  Das Leitbild von Hartz IV klagt etwas
ein, das es in der Praxis zertrümmert.
Das alles ist praktisch für jene, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Die
Verachtung für die „Unterschicht“, die produziert wurde, verhindert jede Form
der Aufmerksamkeit, Einfühlung, Solidarität. (S.72ff.*)
Der Film „Le Havre“ des Regisseurs Aki Kaurismäki thematisiert übrigens
diese Problematik. Ein Schuhputzer am Bahnhof, eine Bäckerin, ein Sänger
und ein Bub aus Afrika erzählen ihre Geschichte. Interessant dabei ist, dass
diese Armutsbetroffenen in dem Film mit Eigenschaften auftreten, die ihnen
sonst beständig abgesprochen werden. So zeigen sich die Betroffenen unter
anderem: solidarisch, findig, klug, strategisch, sorgend und verantwortungs-
voll.“
28.12.2017
Quellenangabe:
*) Martin Schenk / Martin Schriebl-Rümmele, “Genug gejammert - Warum
   wir gerade jetzt  ein starkes soziales Netz brauchen”, 2017,
   Ampuls-Verlag (www.gesundkommunizieren.at)