Am 5. Mai berichtete der lateinamerikanische Fernsehsender Telesur, dass
die Partei des brasilianischen Staatschefs Michel Temer im Parlament einen
Antrag eingebracht habe, die für das nächste Jahr vorgesehenen Präsident-
schaftswahlen auf 2020 zu verschieben. Die Begründung dafür lautet, man
wolle per Verfassungsänderung die Wahlen zum Staatsoberhaupt und zu den
Gouverneuren zusammenlegen.
Keinem der deutschen Leitmedien war diese Information eine Meldung wert.
Auch dpa und AFP, die beiden in Deutschland führenden Presseagenturen,
interessierten sich für diese Nachricht nicht, obwohl es sich bei Brasilien
immerhin um ein G-20-Mitglied handelt. Die Tatsache, dass Temer nicht
demokratisch gewählt wurde, sondern vor einem Jahr durch einen instituti-
onellen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff in sein Amt kam, wird von
den meisten Medien ohnehin unterschlagen.
Wäre Venezuelas Präsident Nicolás Maduro – der im Gegensatz zu Temer
demokratisch gewählt ist – auf einen solchen Einfall gekommen, wäre das
wohl anders gewesen. Denn Venezuela prägt die internationale Bericht-
erstattung.
Es sind immer dieselben Bilder aus dem südamerikanischen Land, die auch
hierzulande über die Bildschirme flimmern: Sicherheitskräfte feuern Tränen-
gasgranaten auf Demonstranten, die werfen Steine und Molotowocktails.
Die dpa verbreitete am Dienstag aus Caracas: »Bei neuen Protesten gegen
eine drohende Diktatur in Venezuela und heftigen Zusammenstößen mit der
Polizei sind mehr als 60 Demonstranten verletzt worden. Die Polizei setzte
nach Berichten von Augenzeugen Tränengasbomben ein, um den Protestzug
zu zerstreuen.«
Es gehe um »Pläne des sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro, eine
neue Staatsordnung erarbeiten zu lassen«, die Demonstranten fürchteten
»ein Abrutschen in die Diktatur und die endgültige Ausschaltung des von der
Opposition dominierten Parlaments«.
In das gleiche Horn stieß am Dienstag die AFP in einem Bericht über jüngste
Proteste in Caracas: »Die Demonstranten hatten Plakate mit der Aufschrift
›Nein zur Diktatur‹ dabei, mit der sie zum Bildungsministerium in der Innen-
stadt ziehen wollten. Die Polizei setzte Tränengas ein, um den Protestzug zu
stoppen. Demonstranten bewarfen die Einsatzkräfte mit Steinen und Brand-
sätzen.«
Beide Agenturen unterschlagen, warum sich die Beamten den Demonstra-
tionszügen entgegengestellt hatten. Das Bildungsministerium liegt mitten im
Regierungsviertel von Caracas, nur fünf Häuserecken vom Präsidentenpalast
Miraflores entfernt. Wenn in der Vergangenheit Demonstrationen der Oppo-
sition bis in das Stadtzentrum marschieren durften, kam es immer wieder zu
Angriffen auf Regierungsgebäude. So wurde am 12. Februar 2014 nach einer
ansonsten friedlichen Kundgebung von Regierungsgegnern das Gebäude
der Generalstaatsanwaltschaft attackiert. Das war der Beginn einer Gewalt-
welle, die 43 Menschenleben forderte. Als Anstifter wurde später der Opposi-
tionspolitiker Leopoldo López zu knapp 14 Jahren Haft verurteilt.
Seither verweigern die Behörden des Innenstadtbezirks Libertador den Re-
gierungsgegnern die Genehmigung für Proteste im Zentrum und versperren
den Demonstrationszügen an der Bezirksgrenze den Weitermarsch.
Die Opposition nutzt das seit Wochen erfolgreich für eine sich wieder-
holende Inszenierung: Man versammelt sich mit wechselnden Parolen im
Osten der Hauptstadt, wo die Viertel der Mittelschicht liegen und die Oppo-
sition die Bezirksverwaltung stellt. Dann marschiert man trotz fehlender
Genehmigung zu dem jeweils ausgegebenen Ziel los – das fast immer im
Regierungsviertel liegt. Wenn sich Polizei und Nationalgarde in den Weg
stellen, kommt der Einsatz der mit Helmen und Gasmasken ausgerüsteten
Stoßgruppen. Steine und Molotowcocktails fliegen auf die Beamten, bis
diese mit Tränengas und Wasserwerfern antworten. Die Kameras richten
sich dann auf die Oppositionsführer, die sich medienwirksam als Opfer der
Polizeigewalt inszenieren.
Im Internet kursiert ein Video, in dem sich Lilian Tintori, die Ehefrau des
inhaftierten Leopoldo López, während einer Demonstration im April als Opfer
der Repression inszeniert. Zu sehen ist, wie sie inmitten von Rauch helden-
mütig ihre Gasmaske mit einem jugendlichen Demonstranten teilt – nicht
ohne sich vorher zu vergewissern, dass die Reporter ihre Aufnahmegeräte
eingeschaltet haben. Auffällig ist allerdings, dass die zahlreich anwesenden
Kameraleute offenkundig kein Problem mit dem mutmaßlichen Tränengas
hatten – und dass es auch Tintori selbst wohl nicht eilig hatte, sich in
Sicherheit zu bringen.
Mitte April präsentierte das staatliche Fernsehen VTV genüsslich eine Panne
des privaten Nachrichtenkanals Globovisión. Der hatte offenkundig zu früh
zu seinem Reporter geschaltet, der von einer Demonstration der Opposition
berichtete – und so ging live über den Sender, wie der Berichterstatter den
Protestierenden Anweisungen gab, was sie rufen sollten.
Solche Details unterschlagen die 90-Sekunden-Häppchen im deutschen
Fernsehen – sie passen nicht ins Bild. Dabei hatte tagesschau.de am 20.
April selbst darauf hingewiesen, dass man den Informationen beider Seiten
nicht trauen dürfe: »Die Medien berichten einseitig – entweder für oder
gegen den amtierenden Präsidenten –, und die Venezolaner wissen kaum
noch, wem und was sie überhaupt glauben sollen.«
Unterschlagen wird, dass die öffentlich-rechtlichen Sender an der Stim-
mungsmache aktiv beteiligt sind. Als die Deutsche Welle vor wenigen Tagen
den spanischen Europaabgeordneten Javier Couso befragte, warum die
Linksfraktion gegen einen Antrag zu Venezuela gestimmt hatte, stellte der
Politiker falsche Behauptungen der Journalistin richtig – und wurde von ihr
dafür ständig unterbrochen. Nach knapp fünf Minuten endete das Interview
mit dem enttäuschten Kommentar der Fragestellerin: »Ich habe nicht die
Antworten erhalten, die ich haben wollte.« Couso darauf: »Die Antworten
gebe ich, nicht Sie.«
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/310506.erfolgreiche-inszenierung.html