Herr Professor Ziegler, in Ihrem neuen Buch "Das Imperium der Schande"
sprechen Sie von einer Refeudalisierung der Welt. Was meinen Sie damit?
In den letzten Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer entstanden,
der Welthandel hat sich in den letzten 12 Jahren mehr als verdreifacht, das Welt-
Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der
Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie des gemeinsamen
Glückes wäre materiell möglich. Und gerade jetzt findet eine brutale, massive
Refeudalisierung statt. Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne -
ich nenne sie Kosmokraten - eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese neue
Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der
Französischen Revolution.
Wie funktioniert diese Feudalherrschaft im 21. Jahrhundert?
Die Legitimationstheorie der Konzerne ist der Konsensus von Washington. Danach
muss weltweit eine vollständige Liberalisierung stattfinden: Alle Güter, alles
Kapital und die Dienstleistungsströme in jedem Lebensbereich müssen vollständig
privatisiert werden. Nach diesem Konsensus gibt es keine öffentlichen Güter wie
Wasser. Auch die Gene der Menschen, der Tiere und Pflanzen werden in Besitz
genommen und patentiert. Alles wird dem Prinzip der Profitmaximierung unter-
worfen. Dabei setzen die Konzerne zwei Massenvernichtungswaffen ein, den
Hunger und die Verschuldung. Das Resultat ist absolut fürchterlich. Die Hunger-
zahlen steigen in absoluten Zahlen immer weiter an. Letztes Jahr sind nach dem
Welternährungsbericht jeden Tag 100.000 Menschen an Hunger oder seinen
unmittelbaren Folgen gestorben, alle 5 Sekunden ist ein Kind unter 10 Jahren
verhungert. Und dies, obwohl die Weltlandwirtschaft schon heute - ohne Gen-
technik, etc. - problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, wie derselbe
Bericht feststellt. D.h., es gibt keinerlei Fatalität für die Massenzerstörung der
Welt. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
Was muss passieren, um diese mörderische Entwicklung zu stoppen?
Zuerst muss die theoretische Legitimation dieses Systems, der Konsensus von
Washington, die Ökonomisierung der Natur, diese Wahnidee muss zerstört
werden. Dann muss der Aufstand des Gewissens, ein Sozialaufstand, gegen die
kosmokratische Minderheit, die die Welt beherrscht, organisiert und durchgesetzt
werden. Denn diese kannibalische Weltordnung von heute ist das Ende sämtlicher
Werte und Institutionen der Aufklärung, unter denen wir bisher gelebt haben, das
Ende der Grundwerte, der Menschenrechte. Entweder wird die strukturelle Gewalt
der Konzerne gebrochen. Oder die Demokratie, diese Zivilisation, wie sie heute in
den 111 Artikeln der UNO-Charta oder im Deutschen Grundgesetz fixiert ist, ist
vorbei und der Dschungel kommt. Es ist eine Existenzfrage.
Sie plädieren also für einen weltweiten Aufstand gegen die Macht der
Konzerne. Sehen Sie dafür Ansätze?
Es gibt heute drei historische Kräfte, die zu mobilisieren sind: Die Utopie, die
Scham und die Schande. Die Utopie, dass die Schaffung des gemeinsamen Glücks
heute möglich ist. Die Scham, die eine Mutter in Nordostbrasilien empfindet, wenn
sie Steine kocht, damit ihre Kinder beim Kochgeräusch einschlafen können,
obwohl es wieder nichts zu essen gibt. Und die Schande, die wir empfinden, wenn
wir mit ansehen müssen, wie Menschen gefoltert werden oder verhungern. Diese
Macht der Schande muss mobilisiert werden bei uns, die wir die stillen Komplizen
dieser mörderischen Weltordnung sind.
Können Sie ein Beispiel für die Macht der Schande nennen?
Aus Nordkorea fliehen immer mehr Menschen vor dem Hungertod, dem seit 17
Jahren schon 12% der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind, ins benachbarte
China. Seit 2002 macht die chinesische Geheimpolizei Jagd auf diese Hunger-
flüchtlinge und schiebt sie nach Pjöngjang ab. Dort werden die Männer meist
erschossen, die Kinder und Frauen verschwinden in Konzentrationslagern. Als ich
dies 2003 in meinem Bericht vor den Vereinten Nationen schildern wollte, kam
zwei Minuten vor Beginn der Rede der chinesische Botschafter auf Knien zu
meinem Platz auf der Tribüne, damit man ihn vom Saal aus nicht sieht. Er be-
schwor mich aufgeregt, diesen Punkt auf meiner Redeliste nicht zu erwähnen. Das
ist die Macht der Schande. Ich habe natürlich trotzdem geredet. Seitdem sind
Reisen nach China für mich nicht mehr empfehlenswert.
Wie wollen die Vereinten Nationen erreichen, dass Konzerne weltweit die
Menschenrechte einhalten?
Dazu gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, unter anderem den Global Compact,
der auf Freiwilligkeit setzt und von dem ich nicht viel halte. Dagegen finde ich die
verbindlichen UN-Normen für Unternehmen, die die Unterkommission des
Menschenrechtsausschusses ausgearbeitet hat, ausgezeichnet. Hier sollte die
Zivilgesellschaft und gerade auch die deutschen NGOs, aber auch der deutsche
Botschafter, Druck machen, damit diese Normen jetzt auch umgesetzt werden.
Vielversprechend finde ich auch den Beschluss der 61. Sitzung der Menschen-
rechtskommission der Vereinten Nationen: Von jetzt an sollen Menschenrechte -
die zivilen und politischen ebenso wie die sozialen, ökologischen und kulturellen -
nicht nur für den Staat gelten, sondern auch für das neue historische Subjekt, die
nichtstaatlichen Akteure, die multinationalen Konzerne. Wenn diese Resolution
Völkerrecht wird, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland eine sogenannte
internationale Menschenrechtsobligation. Sie wäre verantwortlich dafür, dass
Konzerne, die ihr Hauptquartier auf deutschem Territorium haben, die Menschen-
rechte weltweit respektieren. Das ist technisch ohne weiteres durchführbar. Es
könnte beispielsweise ohne großen Aufwand ein Inspektorenkorps in Berlin
geschaffen werden, das die Einhaltung der Menschenrechte bei deutschen Konzer-
nen im Ausland nachprüft und Sanktionen verhängt, wenn Verletzungen vorliegen.
Was kann der Einzelne tun? Kann er dazu beitragen, die strukturelle Gewalt der
Konzerne zu brechen?
Wer in einer Demokratie lebt, insbesondere einer westlichen, kann alles tun, um
diese mörderische Weltordnung zu brechen. Ein Beispiel: Die Schuldknechtschaft
der Dritten Welt, d.h. die Strukturanpassungsprogramme, etc., wird verwaltet vom
IWF, dem Internationalen Währungsfonds. Bei den halbjährlichen Generalver-
sammlungen des IWF in Washington ist auch der deutsche Finanzminister dabei.
Er hat großen Einfluss, denn Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht des
Planeten. Brasilien hat nach der Statistik der Regierung 44 Millionen schwerst
permanent unterernährte Menschen, knapp ein Viertel der Einwohner, obwohl es
ein reiches Land ist. Aber aus 18 Jahren Militärdiktatur und von fünf neoliberalen
Präsidenten hat der jetzige Präsident Lula, von dem ich sehr viel halte, einen Berg
von Auslandsschulden von 242 Milliarden Dollar geerbt. Diese Auslandsschulden
verschlingen einen großen Teil der mit Exporten gewonnenen Devisen. Damit hat
er objektiv keine Möglichkeit, sein Programm "Fome Zero" gegen den Hunger im
Land zu finanzieren. Seit zwei Jahren versucht er deswegen mit dem IWF über ein
Moratorium der Schulden zu verhandeln und stößt dabei auf eine Betonwand. Die
deutsche Öffentlichkeit, die Presse, die Parlamentarischen Institutionen, jeder
Bürger mit seinem Wahlzettel könnte dem deutschen Finanzminister sagen: Wir
wollen, dass Du beim IWF für das Schuldenmoratorium Brasiliens stimmst, weil
wir nicht wollen, dass brasilianische Kinder weiter an schwerster Unterernährung
leiden. Das geht! In der Demokratie sind die Mittel vorhanden, um diese
Weltordnung umzustoßen und die Menschenrechte durchzusetzen.
Welche Rolle spielen die Welthandelsorganisation WTO und der IWF in dieser
Ordnung?
Leider sind WTO und IWF die zwei entscheidenden Organisationen für die Nord-
Süd-Beziehungen, die UN haben da nicht viel mitzureden. Bei beiden wird der
neoliberale Konsensus von Washington dogmatisch durchgesetzt. Beide sind
willige Helfer der Kosmokraten, sie müssen aufgelöst werden.
Sie glauben auch nicht, dass WTO, und IWF reformierbar wären?
Nein, das sind menschenzerstörende Organisationen. Menschen sterben jeden Tag
wegen dieser Politik. Im Niger beispielsweise stehen heute 3,6 Millionen
Menschen am Abgrund. Der IWF hat die Bildung von Lebensmittelreserven letztes
Jahr verhindert. Er hat dafür gesorgt, dass das größte Transportunternehmen des
Landes privatisiert wird, ebenso wie das nationale Veterinäramt. Jetzt gibt es keine
Impfstoffe mehr für das Vieh. Und jetzt hat der IWF auch noch verboten, dass
Hirse gratis verteilt wird, auch von der UNO oder von NGOs, weil dies
marktverzerrend sei. Das ist eine absolut mörderische Politik.
Wie sollte der Welthandel Ihrer Meinung nach geregelt werden?
Ich bin für gerechte Welthandelsregeln, die die Interessen beider Partner in jeder
Phase berücksichtigen: frei ausgehandelt, ohne Zwang, nach den Prinzipien von
Fairness und Transparenz. Das ist bei der WTO nicht der Fall: Die EU, USA,
Kanada, Australien und Japan diktieren den Verhandlungsprozess. Sie haben eine
totale Erpressungsmacht, weil sie 81% des Welthandels kontrollieren. Und sie
können Mehrheitsentscheidungen blockieren, da alle Entscheidungen nur
einstimmig von allen WTO-Mitgliedern getroffen werden. Diese so genannte
Konsensregel ist eine reine Lüge: Sie nützt den Reichen, die einen Konsens mit
wirtschaftlichen Versprechungen oder Drohungen erzwingen können. Zudem
haben viele ärmere Länder gar nicht die Möglichkeit, an den langwierigen
Verhandlungen ständig teilzunehmen - oft sind sie über wichtige Entscheidungen
nicht informiert. Beispielsweise haben 18 afrikanische Länder gar keine Botschaft
bei der WTO in Genf, weil sie es sich nicht leisten können. Ich bin für
Welthandelsregeln, aber nicht für diese. Das sind diskriminierende, intransparente
Erpressungsmechanismen.
Was gäbe es für Alternativen zur WTO?
Ein wichtiges Gegengewicht zur WTO ist schon jetzt die UNCTAD (UN-
Konferenz für Handel und Entwicklung), sie arbeitet viel mit der Zivilgesellschaft
zusammen. Eine neue Organisation zur Regelung des Welthandels sollte auf jeden
Fall unter dem Dach der UNO angesiedelt werden, was ja bei der WTO nicht der
Fall ist.
Was erwarten Sie vom WTO-Gipfel in Hongkong?
Nicht viel. Wenn die Positionen der Industrieländer vom WTO-Gipfel 2003 in
Cancun sich nicht verändern, dann wird es kein Abkommen geben. Ein Streitpunkt
wird wieder die Baumwolle sein. Bush wird die 600 amerikanischen
Baumwollproduzenten weiter mit 5 Milliarden Dollar jährlich subventionieren. Die
Baumwollpreise werden zusammenbrechen. Es wird darüber diskutiert, den fünf
westafrikanischen Ländern, die völlig von der Baumwollproduktion abhängig sind
- Burkina Faso, Benin, Mali, Niger, Senegal - deswegen finanzielle
Kompensationen zu zahlen. Das wäre ein Bruch mit der reinen Marktlogik der
WTO, zum ersten Mal hätte eine normative Dimension eingesetzt.
Die USA sind wegen der Baumwollsubventionen von der WTO verurteilt
worden. Gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten?
Ja, aber sie sind nicht effektiv. Kleine Länder wie Burkina Faso oder Senegal
haben keine Chance. Sie könnten zwar bei einer Verurteilung der USA ein
Importstopp für amerikanische Baumwolle verhängen, aber das würde die
Amerikaner nicht stören. Würden dagegen die USA ein Importstopp für
Baumwolle aus Westafrika verhängen, wäre das der Ruin für die Region. Das ist
eines der vielen Probleme der WTO, dass in der Realität nur die großen Länder
effektive Sanktionen durchsetzen können.
Viele Menschen aus dem armen Teil der Welt versuchen in eine der Wohl-
standsoasen wie die Europäische Union zu gelangen. Was kann die EU da tun?
Die EU müsste dringend ihre Export-und Produktionssubventionen in der
Landwirtschaft abschaffen. Alle Industrieländer zusammen haben letztes Jahr für
Produktions- und Exportsubventionen landwirtschaftlicher Güter 349 Milliarden
US-Dollar ausgegeben - fast 1 Milliarde Dollar am Tag! Die Zerstörung der
lokalen Märkte in Entwicklungsländern durch Billigexporte aus der EU ist ein
schon lange bekannter Skandal. Auf dem Markt in Dakar im Senegal können Sie
europäisches Gemüse aus Frankreich, Portugal oder Spanien zu einem Drittel des
einheimischen Preises kaufen. Die senegalesischen Bauern rackern sich 16
Stunden unter brennender Sonne ab. Auf dem Markt entdecken sie dann das
Dumpinggemüse der EU. Sie haben keine Chance.
Es gibt Menschen, die sagen, dass alles wüssten wir doch schon seit Jahren,
und es ändere sich trotzdem nichts.
Das stimmt nicht, das Bewusstsein weltweit steigt. Auch in der WTO selber haben
die Kritik und die Forschungsarbeit von Organisationen wie Germanwatch
Wirkung gezeigt. Es kommen Zweifel auf. Beim WTO-Gipfel in Cancun hat eine
neue, erfolgreiche Symbiose stattgefunden zwischen Zivilgesellschaft und den
Delegationen der Entwicklungsländer. Pascal Lamy, der Generaldirektor der
WTO, hat dies gemerkt und sucht jetzt den direkten Dialog mit den NGOs. Die
Zivilgesellschaft ist stark in Deutschland und der Welt.
Das Gespräch führte Ralf Willinger